Alfred André Meyes (67)
Ich sitze im Zug nach Lugano. Jeden zweiten Montag werde ich dorthin pendeln. Eine neue Stelle, eine neue Herausforderung und neue KollegInnen erwarten mich. Ein Bekannter gab mir eine neue Zeitschrift mit. Zum Lesen, damit es mir nicht langweilig werde auf der langen Reise. Auf dieser Strecke wird’s kaum langweilig. Geschäftsleute, zu denen gehöre ich jetzt vermutlich auch, WandererInnen, Familien, PfadfinderInnen steigen ein und aus. Kehrtunnel, enges Tal und nicht zu vergessen: Die Kirche von Wassen.

Ich kenne die Strecke auswendig. In meiner Kindheit fuhren wir jedes Jahr mit der Familie ins Tessin in die Ferien. Jedes Mal sagte die Mutter zu uns Kindern: «Its gseht dir de d Chiuche vo Wasse drü mau!». Jetzt arbeite ich im Tessin und pendle jede zweite Woche nach Lugano. 60 Jahre liegen seit der ersten Fahrt und der heutigen Reise. Auch jetzt erklingen die gleichen Worte aus den Mündern der Mütter und Väter.
Schüchternen Blick zur Mitreisenden
Zurück zur heutigen Reise. Der Zug verlässt Luzern. Trübes Wetter. Gelegenheit zum Lesen. Die Zeitschrift, die mir der Kollege gab, soll eine interessante sein und Generationen verbinden. In Arth Goldau steigen Passagiere zu. «Isch da no frei?» Ich schaue auf und eine nette junge Frau steht im Gang. «Klar doch», ist meine Antwort. Sie setzt sich gegenüber, gangseits, hin und steckt sich die Stöpsel in die Ohren.
Ich hebe meine Zeitschrift und lese weiter: Ich liebe Zugfahren. Und besonders liebe ich es, mir meine Kopfhörer in die Ohren zu stecken, die Welt um mich herum auszublenden. Ist es Zufall, dass ich gerade jetzt diesen Abschnitt lese? Ich werfe einen schüchternen Blick über den Zeitungsrand hin zur Mitreisenden. Zurück auf Seite fünf, der Text beginnt mich zu interessieren. Wenn ich eines Tages alleine im Zug sitze und mit grossen Augen aus dem Fenster schaue, eine junge Frau ihre Kopfhörer aus den Ohren nimmt und mich freundlich anspricht: «Schönes Wetter heute, nicht wahr?»
Wieder hebe ich meinen Kopf und blicke kurz zu ihr. Wird sie die Stöpsel rausnehmen, wird sie mich ansprechen? Wohl kaum, sie hat ja den Artikel nicht geschrieben. Soll ich? Das Wetter ist aber nicht so schön heute. Der Zug klettert die imposante Strecke durch unzählige Schleifen hoch. Wie wäre es mit der Kirche von Wassen als Gesprächseinstieg? Ich werfe einen Blick durchs Fenster hinaus zur Kirche. Zu spät, wir sind bereits im nächsten Kehrtunnel.
Die Kirche von Wassen ganz unbemerkt
Ich lese weiter. Sie hätte mich sowieso nicht gehört, entschuldige ich mich selber. Ich blättere weiter und komme mit Lesen zügig voran. Und die Kirche von Wassen ist ein zweites und ein drittes Mal am Fenster vorbeigehuscht, ohne dass ich die Gelegenheit zu einem Gespräch ergriffen hätte.
In der Finsternis des Gotthardtunnels fällt mir kein anständiges Thema zu einer Konversation ein. Also lese ich weiter, erreiche die Seite mit dem Titel «Ein altes Rezept für junge Köchinnen». Da Kochen nicht gerade zu meinen Leidenschaften zählt, wandert mein Blick weiter zur nächsten Seite. Da guckt mich doch ein Mann «kopfüber» an! Ach, die ganze Seite ist verkehrt. Hastig drehe ich das Heft um und lese den Artikel mit dem Thema über «Frust und Freude» von Paul Durrer. Ich blättere wie gewohnt weiter, und schon wieder ist das ganze Zeugs verkehrt.
Ruhig bleiben, Alfred. Ein zögernder Blick zur Mitreisenden über den Rand des Heftes. Unsere Augen begegnen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Ich meine, ein Lächeln auf ihren Lippen wahrzunehmen. Könnte das ein Signal sein? Dass sie zu einem Gespräch bereit wäre, ich aber beginnen müsste? Ich nehme die Zeitschrift wieder ein bisschen höher.
Panik am Gotthard
Augenblicklich bin ich mit zwei ungewohnten Situationen konfrontiert. Eine Zeitschrift, die immer kopfsteht und eine junge Frau, die vermutlich signalisiert, dass ein Gespräch möglich wäre. Lesen ist jetzt nicht mehr möglich. Ich schaue zum Fenster, wohlwissend, dass ich nichts sehen werde. Für Augenblicke bin ich 60 Jahre zurückversetzt, sehe mich und meine Geschwister, wie wir an der beschlagenen Fensterscheibe unbelastet mit dem Finger Figuren zeichnen und der Kreativität freien Lauf lassen. Die Eltern rätseln, wie das Wetter wohl änet dem Gotthard sein werde. Die Scheiben beschlagen sich heute nicht mehr und das Wetter erfragt man auf der Meteo-App.

Mein Bild kommt langsam wieder zurück in die Gegenwart. Mein Profil wird immer deutlicher im Spiegelbild der Scheibe. Gestochen scharf sehe ich mich nun mit einer Zeitung verkehrt in den Händen haltend. Die Frontseite der Zeitschrift steht Kopf! Es wird mir zeitlebens in Erinnerung bleiben. Unauslöschlich eingebrannt.
Was denkt wohl die weibliche Mitreisende? Dass ich sie heimlich beobachte und die Zeitung nur als Tarnung brauche? Und der 60+Mann die Zeitung nicht mal richtig in die Hände nehmen kann? Es läuft mir heiss und kalt den Rücken hinunter. Ich meine, dass mich alle anstarren und diese Blicke wie hunderttausend Nadelstiche in mich eindringen.

Verwirrt verstaue ich das blöde Ding in den Rucksack und ziehe mein Tablet heraus. Ich kann in diesem Zustand nicht einfach nur dasitzen. Ich erinnere mich vage daran, soweit es in dieser peinlichen Situation überhaupt möglich ist zu denken, dass es auch eine Online-Ausgabe dieser Zeitschrift geben soll. Ich finde die Seite, lese und blättere mit einem eleganten Fingerstrich weiter. Die besagte Seite taucht auf und steht wieder Kopf. Ich drehe das iPad um und das Bild dreht sich hartnäckig zurück. Wie ich das Tablet auch drehe, einmal nach links rum oder nach rechts, Paul Durrer (66) ist immer kopfüber zu sehen.
Die junge Frau spricht
Airolo, blauer Himmel und Sonnenschein, der schon zur Gewohnheit gewordene Blick zum Denkmal «Le vittime del lavoro». Früher hielt der Zug hier noch. Fenster runter und eine Geschichtslektion der Mutter über das Denkmal, das den Opfern beim Bau des Gotthardtunnels gewidmet sei. Jedes Jahr dasselbe.
Bald fahren wir unten durch. Die Erinnerungen an die früheren Reisen und der Gedanke, in naher Zukunft fast eine Stunde früher im Tessin zu sein, beruhigt mich ein bisschen und ich beginne die Fahrt zu geniessen. Darf Mann nichts tun? Nur durchs Fenster schauen und staunen, wie sich der Zug durch die Leventina hinunter windet?
«Stiamo arrivando a Bellinzona…» Die junge Frau nimmt die Hörer aus den Ohren, erhebt sich, lächelt mich an und fragt: «Heiter öine Chind o jedesmau gseit, dass me ds Chiuchli vo Wasse meh aus einisch gseht?» Bevor ich überhaupt eine Antwort geben kann, steht sie bereits auf dem Perron, schaut noch einmal zurück, winkt und verschwindet unter den Leuten.
Nachtrag: Jedes Mal, wenn das Magazin im Briefkasten liegt und ich es herausnehme, schüttelt es mich innerlich und ich erlebe die Situation erneut. Seit diesem einschneidenden Erlebnis verweigere ich der Printausgabe einen Platz in meinem Reisegepäck. Stattdessen lese ich die Zeitschrift an einem heimlichen Ort, unbeobachtet. Immer wenn ich den Wendepunkt in der Heftmitte erreiche, sehe ich mich im Zug sitzen und es berührt mich peinlich…

Diese Zeiten sind nun vorbei. UND hat sich gewandelt, sich weiterentwickelt. Das Magazin erscheint nun in einer Richtung, hat eine Front – und Rückseite und kann wieder ohne Hemmungen öffentlich gelesen und studiert werden.
Kursiver Text: Originalpassagen aus der erwähnet Printausgabe.
