Determinismus
Die Gesellschaft, in der wir leben, ist auf der Philosophie aufgebaut, dass jeder Mensch einen freien Willen hat. Aus eigener Initiative entscheidet «jemensch», was und wann etwas getan wird. Die Gesellschaft als Gemeinschaft von Individuen steht somit im Widerspruch zum Determinismus. Dieser besagt, dass jedes Ereignis eine Ursache hat. Alles im Universum wird durch Kausalität regiert, also durch Ursache und Wirkung. DeterministInnen glauben, dass alle Ereignisse vorbestimmt sind, menschliche Handlungen miteingeschlossen. Willensfreiheit des Menschen gibt es somit nicht.
Lisa Essig (21): Wer deterministisch denkt, glaubt doch daran? Vielleicht ist es ketzerisch, den Determinismus mit einem Glauben zu vergleichen. Doch wo liegt der Unterschied: daran zu glauben, unfrei in einer Meinung zu sein – oder in der Freiheit des Denkens eingeschränkt zu sein, indem man nur an eine einzige religiöse Richtung glauben darf? Inwieweit wird unsere Meinung durch Umweltfaktoren eingeschränkt? Wer bestimmt eigentlich, ob ich frei in meinem Denken bin? Gott, die «Vorbestimmung» oder letztlich ich selber? Manchmal glaube ich sehr gerne daran, dass ich selber entscheiden darf, wie ich denke, und dass ich mir ganz frei einen guten oder einen schlechten Gedanken machen kann. Freiheit im Denken könnte ich andererseits auch als Gottheit bezeichnen, sie scheint teilweise ebenso weit entfernt.
Karin Mulder (79): Der freie Wille wird uns geschenkt. Jeder kann auf seine Weise frei entscheiden, solange er damit nicht Gesetze übertritt oder bricht. Natürlich folgen auch Konsequenzen, die dann doch eine Einschränkung bedeuten können. Das muss jeder bei der Entscheidung mitbedenken. Auch lehrt uns die Bibel, dass Gott uns Menschen nicht als Marionetten versteht, sondern uns den freien Willen lässt. Ich kann mich mit dem Gedanken, dass alles vorherbestimmt ist, nicht anfreunden. Statt Determinismus pflege ich den Optimismus.
Schlechtes Gewissen
Habe ich ein Gewissen? Und wenn ja, macht mich dieses Gewissen frei oder unfrei in meinem Denken?
Lisa: Ich habe mich im Zusammenhang mit der Gedankenfreiheit gefragt, ob es ein schlechtes Gewissen überhaupt geben kann. Wenn ich absolut frei wäre, könnte ich kein schlechtes Gewissen haben. Ich wäre ohne Gewissen nicht eingeschränkt und könnte alles Mögliche und Unmögliche tun oder lassen. Ich behaupte, dass jeder und jede schon einmal ein schlechtes Gewissen hatte, somit würde die Freiheit im Denken nicht existieren. Was ist, wenn ich mein Gewissen beeinflussen kann und mein schlechtes Gewissen auszuschalten vermag? Was bedeutet das?
«Die vermeintliche Freiheit erweist sich nämlich immer wieder als Unfreiheit.»
Ist das Ausschalten des schlechten Gewissens eine persönliche Entscheidung oder haben wir darauf keinen Einfluss? Nehmen wir das Beispiel Diebstahl. Wieso haben weder Karin noch ich ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns beim Baum des Nachbarn von den Kirschen verlocken lassen? Wir rechtfertigen uns damit, dass sich die Vögel auch daran bedienen und unser schlechtes Gewissen ist beruhigt. Bei diesem Beispiel handelt es sich meiner Meinung nach um eine Banalität. Doch kann ich mich noch daran erinnern, wie ich als kleines Kind gerne mit meiner Mama einkaufen war, und immer, wenn wir vor den offenen Trauben standen, hatte ich eine riesige Lust mir eine zu nehmen. Mehr als einmal gelang es mir auch, doch es blieb immer die Angst, dass mich jemand dafür bestrafen könnte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Jahre später habe ich dieses Gefühl bei den Kirschen nicht mehr. Heute mache ich mir bei anderen Gegebenheiten ein schlechtes Gewissen. Ich weiss nicht, ob ich wirklich frei bin in meinem Denken, die vermeintliche Freiheit erweist sich nämlich immer wieder als Unfreiheit.
Entscheidungsfreiheit
Über die Freiheit – wie auch über die Liebe – haben schon viele gescheite Menschen geschrieben. Ich möchte dazu nur ein paar persönliche Gedanken äussern.
Karin: Wie froh bin ich, dass ich als mündiger Mensch meine Entscheidungsfreiheit habe. Zum Beispiel kann ich in der Politik geheim – aber auch öffentlich – meine Meinung und eine Entscheidung für oder gegen etwas äussern. Wie sieht es in meinem Privatleben aus? Ich weiss noch, wie sehr ich darauf wartete, endlich 18 Jahre alt zu werden, mündig zu sein um selbst zu entscheiden. Seitdem kann ich zwar überall frei entscheiden, bin aber von vielen Umständen beeinflusst. Reicht das Geld um die Ausbildung zu finanzieren oder eine grössere Anschaffung zu machen? Kann ich die Reise unternehmen, obgleich meine Eltern krank sind und meine Hilfe bräuchten? Bin ich an der neuen Arbeitsstelle willkommen, wenn ich mich nicht nach den dortigen Regeln verhalte? Meine Freiheit, ganz persönlich zu entscheiden, wird somit immer wieder eingeschränkt.
«Die Medien sind voller Angebote für Sachen, die ich eigentlich nicht nötig habe.»
Ganz zu schweigen von den vielen Entscheidungen, die täglich da sind: Mit akustischen und optischen Reizen werde ich gelockt, doch Produkt XY zu kaufen, auch wenn ich mich vorher für Produkt Z entschieden hatte. Die Medien sind voller Angebote für Sachen, die ich eigentlich nicht nötig habe, aber dennoch kaufe ich sie, weil meine Entscheidungsfreiheit vorher beeinflusst wurde. Wie gehe ich mit dem Überangebot an Waren und Nachrichten um? Entscheide ich noch frei, was ich hören, sehen oder kaufen will?
Belastende Freiheit
Karin: Meine Freunde in Thüringen lebten Jahrzehnte unter dem streng sozialistischen System der DDR. Es war ihnen genau vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen hatten. Sie wurden auch immer wieder kontrolliert und durften als ganze Familie nicht ins Ausland reisen, es bestand Fluchtgefahr. Trotz niedrigem Einkommen und dank staatlichen Stipendien und Zuschüssen reichte es für alle familiären Bedürfnisse. Als dann 1989 die Mauer fiel, herrschte grosser Jubel. Ein Umzug nach Meissen wurde geplant, auch liess sich eine neue Arbeitsstelle finden, die viel mehr Möglichkeiten bot. Doch nach einem Jahr bekam ich etliche Klagen zu hören. Das Leben in der Freiheit sei sehr anstrengend, man müsse planen und selbst entscheiden, welchen Weg man gehen will. Das war ungewohnt und verlangte sehr viel Eigeninitiative. So wurde die sehnlichst ersehnte Freiheit zu einer belastenden Freiheit.
Lisa: Sind wir frei über unser eigenes Leben und unseren Tod entscheiden zu dürfen? Erst seit wenigen Jahrzehnten gibt es den Verein «Exit». Es handelt sich um Sterbehilfe in unheilbaren Krankheitsfällen. Man muss das bereitgestellte Gift noch selbstständig einnehmen können. Wie ich meine Entscheidung also treffe, ob ich die Frage, ob man frei über Tod und Leben bestimmen kann, nun mit ja oder mit nein beantworte, ich werde mit den Konsequenzen rechnen müssen. Sage ich ja, muss ich damit umgehen können, dass ich anderen meine Anwesenheit entreisse. Sage ich nein, brauche ich womöglich intensive Pflege. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das meine freie Entscheidung ist oder eine Beeinflussung durch mein Umfeld.
«Wer den Wind sät»
Vor 60 Jahren wurden noch andere Freiheitsfragen gestellt. Wir stiessen auf einen Film aus den USA von 1959. Der Film «Wer den Wind sät» von Stanley Kramer bringt uns in hitzigen Diskussionsszenen die Freiheit des Denkens näher. Wortgefechte über Evolutionsbiologie nach Darwin und evangelikalen Bibelglauben sind nach einem wahren Gerichtsfall von 1929 inszeniert. «Wer Wind sät, wird Sturm ernten» ist ein Sprichwort, das auf eine Bibelstelle im Buch Hosea zurückgeht («Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten», Kapitel 8, Vers 7).
Karin: Mir gefiel der Film, der 1929 in den Vereinigten Staaten spielt, besonders wegen seiner gewichtigen Dialoge. Die Theorie, dass der Mensch vom Affen abstammt, ist für die strenggläubigen Bewohner einer Kleinstadt im Süden der USA Gotteslästerung. Deshalb lassen sie den jungen Lehrer Cates verhaften. Der hatte seine Schüler mit Darwins Theorie konfrontiert. Seine Verteidigung übernimmt ein renommierter Anwalt. In der Filmfassung von 1959 stehen sich Ankläger und Verteidiger (verkörpert von Spencer Tracy) erbittert gegenüber. Dieser verlangt «Freiheit im Denken».