Eine Stimme: Ich will frei sein!
In mir schreit die Stimme der Freiheit. Selber entscheiden zu können, was und wie ich etwas tun will. Das ist es, was mir wichtig ist und für dessen Erhalt ich nun das Wort ergreife. Gesetze und Regeln sind gut und recht, doch wenn ich nicht mehr die Möglichkeit habe, zwischen mehreren Optionen zu entscheiden, also zu einer bestimmten Handlung gezwungen werde, sehe ich meine Freiheit verletzt.
Sollte es nicht mein freier Entscheid sein, welche Heizung sich am besten für mich eignet oder wann ich das Tragen einer Maske für notwendig halte? Wieso sollte ich plötzlich nicht mehr selber entscheiden dürfen, was für Kleidung ich tragen, wo ich rauchen oder was für ein Auto ich fahren will? Liegt es wirklich im Sinne der Gesellschaft, vorzuschreiben, was man darf und was nicht? Wer weiss besser als ich, was gut für mich ist?
Damit will ich nicht behaupten, dass ich alles weiss. Ich bin durchaus offen für gut gemeinte Ratschläge und Tipps. Wenn mir Entscheidungen allerdings aufgezwungen bzw. vollkommen abgenommen werden, empfinde ich dies als grosse Einschränkung. Wenn plötzlich alles vorgegeben wird, wird meine Existenz in Frage gestellt: Was kann ich überhaupt noch selber? Die Freiheit als Antrieb für mein Leben möchte ich gerne selber verwalten und regulieren. Doch ist das heute noch möglich?
Eine Gegenstimme: Ich trage Verantwortung
Mensch sein, heisst, Verantwortung übernehmen. Vom ersten Augenblick an sind wir abhängig davon, dass jemand Verantwortung für uns übernimmt. Auch später sind wir aufeinander angewiesen. Die Idee des freien Individuums, das nur für sich selber sorgt, ist illusorisch.
Zuerst einmal trage ich Verantwortung für mein eigenes Leben. Meine Gesundheit will ich nicht einfach an die Ärzten delegieren. Bei Entscheidungen für den Beruf, für eine Partnerschaft ist es wesentlich, Werten zu folgen, die ich über Jahre verantworten kann.
Zum Zweiten trage ich Verantwortung für andere. Nicht für das, was sie tun, dafür tragen sie selber die Verantwortung. Aber für das, was ich mit ihnen tue oder auch nicht tue. Eine Gemeinschaft, in der die Einzelnen nicht so handeln, funktioniert nicht.
Ich trage Verantwortung in der Gesellschaft. So wollen zum Beispiel Bundesrat und Parlament jedem und jeder die Freiheit lassen, ein Auto nach freier Wahl zu kaufen. Sie appellierten an die Selbstverantwortung. Selbstverantwortung würde zu einem ökologischen Verhalten führen. Das Resultat ist klar: Es wurden immer grössere Benzinfresser gekauft. Ökologisches Handeln in Freiheit wäre besser. Doch wenn es nicht geht, braucht die Freiheit Grenzen. Eine freie Schweiz hätten wir, wenn wir Bürger und Bürgerinnen in Freiheit Verantwortung übernähmen.
Verantwortung und Freiheit Hand in Hand
Géraldine: Persönlich sehe ich Freiheit und Verantwortung als untrennbar miteinander verbunden. Mit bestem Wissen und Gewissen gehe ich durchs Leben und stehe hinter meinen Entscheidungen und Handlungen. Falls sich diese nachträglich als Irrtum, Leichtsinn oder Unüberlegtheit herausstellen sollten, so übernehme ich die Verantwortung dafür. Ich bin mir meiner Beeinflussbarkeit und meiner Stimmungsschwankungen durchaus bewusst. Fehler geschehen nicht absichtlich und sind leider nicht auszuschliessen, auch wenn ich das noch so gerne täte. Bin ich meiner Verpflichtung, verantwortungsvoll zu handeln, nicht vollständig gerecht geworden, so rechne ich damit, dass jemand eine Rechtfertigung dafür verlangen wird. Dies ist keine angenehme Situation, aber eine mögliche Konsequenz meiner Eigenständigkeit. Für meine Freiheit bin ich bereit, den Preis der Verantwortung zu zahlen oder, anders gesagt, ich zahle gerne den Preis der Verantwortung, um Freiheit zu erlangen. Das Wissen, dass ich unseren wundervollen Planeten mit vielen anderen Menschen und Lebewesen teile, lässt mich die Begriffe Verantwortung und Freiheit nicht nur mit Toleranz und Akzeptanz in Verbindung setzen, sondern auch mit Rücksicht und Respekt. Sie alle sind Werte, die ich für ein friedliches Zusammenleben als unabdingbar sehe, und die nur zusammen funktionieren.
Werner: Ich sehe die Frage von Freiheit und Verantwortung ähnlich wie du. Beides bedingt sich gegenseitig. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch die innere Freiheit. Es genügt nicht, frei zu sein von Eltern, von Autoritäten, von ArbeitgeberInnen. Ich will auch möglichst unabhängig sein von meinen Gewohnheiten, meinen Vorurteilen, Wünschen, Bedürfnissen und Launen.
Die Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung bildet eine Polarität. Zwei Pole stehen sich gegenüber, beide sind gut, es geht um das Gleichgewicht. Freiheit ohne Verantwortung ist Willkür, Verantwortung ohne Freiheit ist moralischer «Murx». Nur wenn ich frei bin, kann ich bewusst Verantwortung übernehmen. Nur wenn ich Verantwortung übernehme, bekommt mein Freisein seinen Sinn.
Fassen wir zusammen: Es sah aus, als wären Freiheit und Verantwortung Gegensätze, als müssten wir uns zwischen ihnen entscheiden. Nun sind wir überzeugt, sie gehören zusammen. Freiheit ermöglicht verantwortungsvolles Handeln, und Verantwortung gibt der Freiheit Ausrichtung und Sinn. Freiheit lässt uns Fehler machen, und aus Verantwortungsgefühl korrigieren wir sie wieder.