Was verstehst du unter «gesund» und «krank»?
Anna Dettwiler (24): Ich bin frisch diplomierte Physiotherapeutin. Gesund sein ist für mich ein Zustand ohne Beschwerden. Sobald jemand Beschwerden hat, ist er nicht mehr gesund, was aber nicht heissen muss, dass er krank ist. Für mich gibt es einen Unterschied zwischen Verletzung und Krankheit. Die meisten PatientInnen, welche zu mir kommen, sind verletzt und nicht direkt krank. Als aktive Fussballerin plagten mich diesen Sommer immer wieder Schmerzen im Oberschenkel. Ich kann aber jederzeit zu mir selber schauen, mir selber helfen und fühle mich somit nicht «krank», sondern leicht verletzt.
Anna Luterbacher: Ich bin pensionierte Pflegefachfrau. Für mich bedeutet gesund sein eine Balance zwischen psychischem und physischem Wohlbefinden mit wertvollen sozialen Beziehungen. Diese Balance ist natürlich nicht immer gleich gegeben! Wenn sie stimmt, fühle ich mich unabhängig.
Das Thema Abhängigkeit erlebe ich bei meiner 94-jährigen Mutter, die alleine in einem Haus lebt. Sie sei ja nicht krank, sie könne alles selber machen, sagt sie und leidet, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen muss, die sie nicht selber organisiert. «Abhängigkeit und damit verbundene Pflege vermitteln das Gefühl von «krank sein».
ad: Ich behandle eine Patientin, welche an den Rollstuhl gebunden ist. Er ist ein fixer Bestandteil ihres Lebens. Sie fühlt sich erst dann krank, wenn sie ein zusätzliches Symptom wie zum Beispiel Schmerzen, Schlafstörungen oder eine Grippe hat. Die Leute nehmen sie als krank wahr, weil der erste Eindruck nicht der Vorstellung von intakt und unversehrt sein entspricht. Für sie ist das Leben im Rollstuhl ihr gesunder Zustand. Ein Krankheitszustand kann so in den Normalzustand übergehen und ist eine Frage der Wahrnehmung und des eigenen Befindens.
Was heisst in deinem Beruf Hilfe in Anspruch nehmen?
al: Wenn jemand durch mich als Pflegefachfrau Hilfe benötigt, fühlt sie oder er sich mehrheitlich krank. Das ist auch jetzt noch so, wenn ich «nur» Unterstützung und nicht Pflege anbiete, obwohl ich nicht mehr im Beruf stehe.
ad: Wenn jemand von einer Physiotherapeutin Hilfe benötigt, empfindet er oder sie das als Therapie und fühlt sich dadurch nicht krank.
Hast du das Gefühl, du pflegst jemanden?
ad: Nein, in der Therapie geht es um das Unterstützen von Aktivitäten. Bei einem Tetraplegiker erfolgt das Zähneputzen nicht, damit er saubere Zähne hat, sondern damit er lernt es selber zu machen.
al: Bei uns in der Pflege geht es in diesem Beispiel in erster Linie darum, dass die Zähne sauber sind. Ich übernehme nur vorübergehend diese Funktion, aber längerfristig muss die Pflegende mit den Ressourcen der PatientInnen arbeiten.
ad & al: Bei uns beiden ist das Ziel, dass jemand gesund wird, gesund bleibt oder einer Krankheit vorgebeugt wird. Um dies zu erreichen, braucht es Beziehungsarbeit mit Menschen – dies unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft. Und sie ist kombiniert mit Fachwissen. Es ist erwiesen, dass Behandlungen einen besseren Effekt haben, wenn das emotionale Verhältnis zwischen Fachperson und PatientInnen positiv geprägt ist. Pflege hängt sowohl vom Fachwissen wie von der Beziehung zu den PatientInnen ab.
al: Die Kombination von Beziehung und fundiertem Fachwissen unterscheidet die Pflegefachfrau von einer nicht ausgebildeten Person, welche jemandem Hilfe zukommen lässt.
Wie haben sich die Pflege und die Patientinnen über die Generationen hinweg verändert?
al: Das Wissen der PatientInnen ist viel grösser, sie haben eine kritische Haltung und kein blindes Vertrauen mehr. «Ich habe gegoogelt, dass…» ist heute gang und gäb.
ad: Das kann positiv sein, da es den PatientInnen Selbstständigkeit und Informationen geben kann, es führt aber auch zu Katastrophisierung und Fehlinformationen. Viele PatientInnen ängstigen sich durch Informationen aus dem Internet. Beispielsweise haben 87 Prozent der Personen zwischen 20 und 70 Jahren auf einem Röntgenbild einen Bandscheibenvorfall ohne Symptome! Wenn man den Bandscheibenvorfall jedoch googelt, wird einem nicht klar, dass dies etwas ganz Normales sein, jedoch auch starke Beschwerden hervorrufen kann.
al: Der Pflegeberuf hat sich wie auch alle anderen Berufe im Verlaufe der Zeit bezüglich Ausbildung, Rollenverständnis, Entwicklungsmöglichkeiten ziemlich verändert.
Wie sieht die Zukunft aus?
ad: Da mehr Wissen über Gesundheit vorhanden ist und die Menschen darauf achten, gesund zu leben, werden sie auch immer älter. Mit zunehmendem Alter leiden sie aber häufig an einer oder mehreren Krankheiten. Somit sind die Leute auch immer älter, wenn bis sie Pflege benötigen. Die Zahl an alten und kranken, gebrechlichen Menschen nimmt laufend zu.
al: Diese Entwicklung fordert das konstruktive und ideenreiche Zusammenwirken von allen Playern, die im Gesundheitswesen beteiligt sind!
Zwei Definitionen
Wie werden Pflege und Gesundheit eigentlich offiziell definiert?
Schweizerischer Pflegeverband zur Pflege: «Professionelle Pflege fördert und erhält Gesundheit, beugt gesundheitlichen Schäden vor und unterstützt Menschen in der Behandlung und im Umgang mit Auswirkungen von Krankheiten und deren Therapien. Dies mit dem Ziel, für betreute Menschen die bestmöglichen Behandlungs- und Betreuungsergebnisse sowie die bestmögliche Lebensqualität in allen Phasen des Lebens bis zum Tod zu erreichen.»
Weltgesundheitsorganisation zur Gesundheit: «Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.» ad/al