Lisa Essig (23)
Kathrin Häberli (60)
Annemarie Voss (76)
Der Anfang des Ich-Bewusstseins
Annemarie Voss: Von meiner Geburt weiss ich wenig. Ich bin in Bern im Frauenspital von einer unverheirateten Mutter geboren worden. Ich stelle mir vor, dass es für sie nicht unbedingt ein freudiges Ereignis war. Meine Geburt war der Anfang meines Ich-Bewusstseins und mein Tod wird das Ende davon sein. Wichtig erscheint mir, was dazwischen ist.
Die zwei grössten und wichtigsten Ereignisse meines Lebens sind mir nicht bewusst; ich habe Vorstellungen, wie es gewesen sein könnte, weniger wie es sein wird. Vorstellungen, die mir keine Angst machen. Ich weiss nicht, ob mit meinem Lebensende wirklich alles zu Ende sein wird, beschäftige mich aber auch nicht besonders damit, weil ich daran nichts ändern kann. Ich stelle mir Totsein als etwas Friedliches vor, ein grosses friedliches Nichts.
Es erstaunt mich immer wieder, dass wir Menschen das Werden und Vergehen in der Natur als etwas völlig Alltägliches begreifen, aber gerne davon überzeugt wären, dass die Natur bei uns Menschen eine Ausnahme macht. Ich sehe mich als einen Teil der Natur, der ihren Gesetzen genauso unterworfen ist, wie alles andere. Nur weil ich ein vielleicht höheres Bewusstsein habe als die Blume in meinem Garten, bin ich von diesem Kreislauf nicht ausgeschlossen. Das Ende ist auch für mich nicht begreifbar; aber so, wie ich in meinem Leben immer darauf vertraue, dass alles seine Richtigkeit hat und ich nicht alles verstehen muss, so vertraue ich auch dem Tod.
Im Leben war vieles schmerzhaft, enttäuschend und schwierig und doch hatte ich, oft erst im Nachhinein, das Gefühl, dass es so sein musste. Vieles war nicht geplant, nicht erwünscht, aber es hat mich stark gemacht. Das Vertrauen, mit allem Schönen und mit allem Unschönen umgehen zu können, gibt mir Zuversicht und lässt mich angstfrei auf mein Lebensende zugehen.
Dazwischen die Ewigkeit
Lisa Essig: Die Geburt ist der Anfang und der Tod das Ende. Dazwischen ist die Ewigkeit. Ich habe weder Angst vor meiner Geburt – oder sie noch einmal zu erleben – noch vor dem Tod. Die beiden sind gegeben, sie passieren. Wir wissen weder, was sie sind, noch, wann genau sie eintreten und erst recht nicht warum. Das, was dazwischen ist, ist das, was ich beeinflussen kann. Der Selbsterhaltungstrieb erhält mich am Leben bis zu meinem Tod. Um sterben zu können, braucht es eine Geburt, und vielleicht ist es naturgemäss auch umgekehrt; irgendwie glaube ich sogar an die Wiedergeburt. Ich sehe darin einen Zyklus der biologischen und der mentalen Welt.
Ich wünsche mir, dass wir nicht noch mehr Menschen werden, aber auch nicht weniger. Wir sollten immer wieder andere werden. Womöglich ist das das Natürliche, nach dem ich streben möchte. Irgendwo in unserem Lebenstrieb tief drin steckt der absurde Wunsch ewig zu leben, dies nenne ich die Stärke des Lebenstriebs. Ich denke aber, dass das Ewige mehrere Todesgesichter hat. Das Ewige zwischen Geburt und Tod trägt einige kleine Geburten und einige kleinere Tode in sich, und jedes Mal entsteht etwas Neues. So entsteht ein authentischeres Bild des Selbst, bis schliesslich der wirkliche physische Tod eintritt und das Gesamtbild erschaffen ist. Der definitive Tod eines einzelnen Individuums bleibt schliesslich in den Köpfen oder wird vergessen und tritt in anderen Körpern verteilt wieder auf. Ludwig Wittgenstein schreibt im Tractatus (Satz 6.431), dass sich auch beim Tod die Welt nicht ändere, sondern aufhöre, und im darauffolgenden Satz (6.4311), dass der Tod kein Ereignis des Lebens sei, denn man erlebe ihn nicht. Er schreibt dabei über die Unzeitlichkeit der Ewigkeit. Die Ewigkeit sei genau das, was die Gegenwart sei; und der oder die, welche in der Gegenwart lebe, lebe dann ewig. In dieser Betrachtungsweise ist das Leben endlos. Und so würde ich gerne den Zyklus des Lebens von Geburt zu Tod und von Tod zu Geburt beschreiben.
Lebensübergänge
Kathrin Häberli: Der Tod ist das Gegenteil der Geburt; beides sind Lebensübergänge, von denen wir nicht aus eigener Erfahrung sprechen können. Die eigene Geburt kennen wir aus den Erzählungen unserer Eltern, sie ist der erste Abschied in unserem Leben. Danach müssen wir immer wieder loslassen, Altes, Vertrautes und Gewohntes zurücklassen. Dadurch erfahren wir immer Neues und Anderes, entwickeln uns weiter. Für mich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass es einem beschieden ist, lange und gesund zu leben. Gerade die Begrenztheit der Zeit zwischen Geburt und Tod macht die Lebenszeit besonders kostbar.
Vielleicht macht der Tod auch Angst, weil wir auf ihn keinen Einfluss nehmen, ihn nicht austricksen können. Gerade in unserer Zeit, wo wir auf Selbstbestimmung grossen Wert legen, kann das irritieren.
Die Erfahrung der Vergänglichkeit bringt uns mit der Zerbrechlichkeit des Lebens in Berührung, konfrontiert uns mit vielen Sinnfragen und bringt unser Leben ins Wanken. Für mich ist es wichtig, dem Leben einen zusammenhängenden Sinn zu geben, der Verluste, Abschiede und den Tod mit einschliesst. Sinn zu geben und zu finden kann dabei in ganz alltäglichen Dingen geschehen – in Begegnungen mit Menschen, im Beistand für andere, in Erlebnissen mit Tieren und in der Natur. Andere können sich in einem übergeordneten Ganzen aufgehoben fühlen und darin Sinn und Antworten
finden.
Nach wie vor stirbt die Mehrheit der Menschen in unserem Land in einer Institution, und doch hätten so viele den Wunsch, zuhause zu sterben. Ich wünsche mir, dass es uns als Gesellschaft wieder gelingt, Sterben und Tod vermehrt ins Leben zu holen, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen und immer wieder auf unser Leben zurückzublicken. Sich mit der eigenen Sterblichkeit beschäftigen, kann bedeuten, eine neue Sicht auf das Leben zu erhalten und somit auch auf den Tod.
Ich wünsche uns allen den Mut dazu!