Freiheit vom Ich
Werner Kaiser (80)
Voraussetzung für Glück ist, frei zu sein vom eigenen Ich. Der Buddhismus fordert die Überwindung der drei «Quälenden Trübungen»: Gier, Hass und Verblendung. Das kann so aussehen:
Nicht begehren: Wenn ich begehre, bin ich in Unruhe. Ich will von einem Zustand weg in einen andern. So ist Freiheit nicht möglich. Es genügt, mich von dem, was kommt, beschenken zu lassen.
Nicht abwehren: Abwehr ist Ausdruck von Angst. Angst und Glück vertragen sich nicht. Sich dem, was mir begegnet, nicht widersetzen. Ich kann nicht wissen, wohin es mich führt. Auch Unangenehmes kann zu Gutem führen.
Nicht festhalten: Festhalten verkrampft und macht unfrei. Ein Auge haben für das Entstehen und Vergehen aller Prozesse, aller Gegenstände, auch meiner Person.
Vor ein paar Jahren las ich ein Buch über den Buddhismus. Ich war beeindruckt. Nachhaltig beschäftigte mich die Aussage über die drei quälenden Trübungen: Um das Glück zu finden, sollten wir Gier, Hass und Verblendung meiden. Ich schrieb dazu einen Text (oben).
Diesen Text legte ich Elisabeth, Fritz, Manu und Melina vor. Wir trafen uns zu einem Gespräch, bei dem sie auf den Text reagierten und ihrerseits formulierten, wie sie «Freiheit vom Ich» verstehen. Das Gespräch war offen und lebendig. Daraus entstanden die vier Stellungnahmen.
Ganz für mich ging ich dabei von einer Vermutung aus: «Freiheit vom Ich» müsste doch eher ein Thema für alte Leute sein. Junge Menschen brauchten doch ein starkes Ich, um ihre Lebensaufgaben zu erfüllen. Einen Beruf erlernen, eine Arbeitsstelle finden, eine Partnerschaft eingehen, eine Familie gründen, all das brauchte Ich-Stärke. Erst im Alter wäre die Freiheit da, das Ich und seine Bedürfnisse loszulassen und so Gelassenheit und, wie man so schön sagt, Altersweisheit zu entfalten. Beurteilen Sie selbst, ob sich diese Annahme bewahrheitet.
Nicht ganz – nicht gar nicht
Melina Hasler (24)
Nach der Lektüre des Textes von Werner machte ich mir einige Gedanken. Nicht begehren – klar, das Begehren von beispielsweise einem Haus, einer Familie und so weiter bringt uns Unruhe, manchmal Nervosität und gar Verkrampftheit in den Alltag. Gleichzeitig muss ich aber sagen, was, wenn nicht genau dieses Begehren mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin? Ist nicht genau dieses Begehren mein Antrieb? Stünde mein Leben nicht still, sobald es aufhörte?
Und giert man schlussendlich nicht sogar nach der Freiheit?
Nicht abwehren – eine gewisse Abwehr kann manchmal gesund sein, doch meistens ist sie der grosse Stein im Weg zum Glück, da bin ich sicher der gleichen Meinung. Meistens wehren wir Dinge ab, welche uns unbekannt sind, aus Angst vor Verletzungen und Unsicherheiten. Oder aus dem Gefühl heraus, wir wüssten es besser. Meiner Meinung nach ist auch der Mut ein wichtiger Faktor auf dem Weg zu Glück und Freiheit, so kitschig es auch klingen mag.
Nicht festhalten – alles ist vergänglich, es gibt aber Momente, welche wir niemals an uns vorbeiziehen lassen möchten. Doch das Gute an dieser Vergänglichkeit ist, dass auch das Schlechte, das Pech und andere negative Dinge genauso vorüberziehen. Wir müssen lernen mit Verlusten umzugehen. Wichtig an diesem Punkt ist aber, mehr im Moment zu leben und zu geniessen, was man hat. Ein gewisses Festhalten finde ich nicht verwerflich, nostalgische Momente können uns tief berühren; für mich gehören schöne Erinnerung genauso zum Glück – ich möchte deswegen sicherlich an ihnen festhalten.
Ego-Fallen wahrnehmen
Elisabeth Wieser (77)
Das Ich bedeutet für mich das Ego in all seinen Formen, das es zu verteidigen gilt. Je grösser das Ego, desto verwundbarer, angreifbarer sind wir. Ego-Fallen wahrnehmen, Selbstbeobachtung, eigene Reaktionen, Verwundbarkeit erkennen, ohne Urteil oder Verurteilung, dadurch finden wir zu mehr freiheitlicher Selbsterkenntnis.
Das Ego besteht für mich aus im Laufe des Lebens angesammelten Prägungen. Erkennen wir unsere Schutzmauern, können sie uns nicht mehr gefangen halten. Oft holt das Verhalten eines anderen Menschen Schatten ans Licht, sehr unangenehm. Abwehr die erste Reaktion. Hier gilt: akzeptieren statt bekämpfen, stehen lassen, auch wenn es Mühe macht. Spontaneität und Humor behalten. Sturheit im Denken erkennen, um die harten Grenzen aufzuweichen.
Den Mittelweg finden zwischen den Extremen von Begehren und Wünschen. Eine offene Hand gibt uns Neues, oft auch Unerwartetes, wenn wir die starre Haltung des Festhaltens verlassen. Offen sein und trotzdem erkennen, wann eine abwehrende Haltung angebracht ist. Die Balance halten zwischen den Extremen, keine leichte Aufgabe. Immer wieder Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, auch wenn es weh tut. Zurückfallen in alte Verhaltensweisen: unvermeidlich.
Das Privileg des Alters: Ich habe Zeit mich zu beobachten, überraschen zu lassen. Auch graue Tage, Verletzungen, Trauer und Verlust zu integrieren versuchen. So können kleine Wunder geschehen. Mich neu kennen lernen, näher am Selbst.
Freiheit vom Ich ist für mich der Weg zum Selbst. Diesen Weg will ich gehen, mit kleinen Schritten, aber unbeirrt.
Kampf gegen den persönlichen Schatten-Minotaurus
Fritz Zurflüh (64)
Über dem Eingang des Orakels von Delphi im alten Griechenland stand: «Erkenne dich selbst». Das bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass sich viele individuelle Probleme erst durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit lösen lassen. Die Ursache eines Problems im Äusseren könnte ja in meinem Innern liegen!
Wenn ich die Freiheit vom Ich gewinnen will, muss ich dieses zuerst einmal kennen! Ich kann nur von etwas frei werden, das ich kenne, sonst bleibt alles diffus. Deshalb muss ich mich meinem Ich stellen – auch meinen Schattenseiten. Wie gerne verdränge ich doch die Seiten an mir, auf die ich nicht stolz bin. Und doch sind sie ein Teil von mir – und sie übernehmen langsam und unbemerkt die Regie in meinem Leben, wenn ich mich nicht mit ihnen auseinandersetze. Schnell droht dann die Freiheit vom Ich zur Flucht vom Ich zu werden! Die Griechen hatten für diese Auseinandersetzung ein eindrückliches Bild: Jeder Mensch muss von Zeit zu Zeit in sein Lebenslabyrinth hinabsteigen und dort den Kampf mit seinem persönlichen Schatten-Minotaurus wagen, sonst wird dieser zu mächtig.
Mir gelingt diese Auseinandersetzung am besten, wenn ich mich im Spiegel meiner Mitmenschen betrachte. So begegne ich mir immer wieder, auch wenn ich auf einzelne Aspekte gerne verzichten könnte. Letztlich geht es um die Versöhnung mit meinem Ich. Und wenn ich langsam zum Frieden mit mir selber finde, nähere ich mich der wahren Freiheit, dem gegenwärtigen Sein. Das ist ein langer Weg. Persönlich kenne ich diese Freiheit bisher leider nur in Ansätzen. Immerhin!
Wir und sie
Manu Alexander (23)
Die Freiheit wird beschränkt durch die Weltanschauung: Vorstellungen, Vorurteile, Denkgewohnheiten.
Der Westen verurteilt gerne China wegen seiner Umweltsünden. Dabei geht oft vergessen, dass China der grösste Importeur von Plastikmüll war. Insgesamt 44 Prozent des nach China exportierten Plastikmülls stammt aus Nordamerika und Europa. Als China 2017 den Import stoppte, ging es nicht allzu lange, bis Europa ein Verbot von Wegwerfprodukten wie Strohhalmen aussprach.
Eine weitere interessante Weltanschauung
ist das globale Recht der Frauen und der Westen als Beschützer davon. Als
Negativbeispiel werden gerne Länder aus Asien genannt. In der Schweiz dürfen
Frauen seit 1971 abstimmen. Indien hatte bereits 1966 mit Indira Gandhi eine
Premier-
ministerin. Während Hollywood in den 1960er Jahren mit James Bond einen Ultra
Macho erschuf – Filme, in denen Frauen nur Dekoration sind – genoss Angela Mao
in den 1970er Jahren in Taiwan Bekanntheit für ihre Kung-Fu-Filme.
Das letzte Beispiel ist das EDA, das sich um die Friedensförderung bemüht. Gleichzeitig exportiert die Rüstungsindustrie der Schweiz Waffen in Kriegsgebiete.
Was diese drei Beispiele mit der Weltanschauung zu tun haben? Wenn nur lokale Medien konsumiert werden, wird die eigene Mikrowahrnehmung nur das sehen und hören, was diese Medien vermitteln. Weil Eigenkritik selten ist, führt dies zu einer Selbstwahrnehmung, die die eigenen Verhaltensweisen als richtig und nobel erscheinen lässt. Das beschränkt die Weltanschauung und generiert zwei Lager: «wir die Guten» und «sie die Bösen».
Für Freiheit muss man über Landesgrenzen hinausblicken und die «Wir-die-Guten-sie-die-Bösen»-Haltung hinterfragen.