Die alten Griechen standen nicht unter Zeitdruck, wie wir heute. Im Gegenteil, sie gönnten sich zwei Zeitgötter namens Chronos und Kairos.
Leistung versus Augenblick
Chronos, Vater des Zeus, steht für den tickenden Sekundenzeiger oder die fallenden Körner der Sanduhr. Ins hektische Heute übersetzt, heisst das: Wer seine Lebenszeit nicht nutzt, der wird von Chronos verschlungen. Oder noch anders: Wer die heutigen Leistungsvorgaben, aus was für Gründen auch immer, nicht zu erfüllen vermag, hat das Nachsehen, den straft die Zeit.
Kairos hingegen, der jüngste Sohn des Zeus, ist der Gott des richtigen Augenblicks und der günstigen Gelegenheiten. Kairos Talente liegen im Moment. Um diesen beim Schopf zu packen, muss man achtsam im Augenblick leben, denn dieser ist flüchtig. Chronos ist quantitatives, fliessendes, Kairos qualitatives, augenblickliches Zeitempfinden. Ersterer steht für Vergangenheit und Erfahrungen, aber auch für die Zukunft. Kairos fokussiert auf die Gelegenheit und ihre Möglichkeiten im Augenblick – im Hier und Jetzt.
Hinter die Fratze zu schauen
Ich bin versucht zu behaupten, dass sich die Zeitqualität mit dem weltweit wachsenden Chaos des COVID-19-Geschehens auch bei uns verändert. Schleicht sich hier klammheimlich Kairos in die behördlich verordnete Entschleunigung ein? Mit angeordneter Quarantäne, dem Verbot von Anlässen, mit Kurzarbeit oder im empfohlenen Physical Distancing (kein Händeschütteln, keine Umarmung, Abstand halten)? Was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn ihr unfreiwillig physische Distanzierung auferlegt wird? Sie ist auf Chronos-Entzug! Die Globalisierung zeigt in der aktuellen Krise ihre unschöne Fratze. Globale Gier macht Menschen, Umwelt und Wirtschaft spürbar krank. Kairos ist in Startstellung und packt die Chance: Er bietet seinen qualitativen Zeit-Raum an. Bringt Wissenschaft, Politik und Wirtschaft zusammen wie wohl selten. Warum braucht es dazu ein weltweites Virus?