
Wie war dein Tag? Eine vernünftige, nicht nur eine nette Frage. Einen Tag vermag man zu überblicken, man erinnert sich noch an einiges. Wie war dein Monat? – das fordert einen doch schon mächtig heraus. Nun beobachte ich aber eine Wendung, die zunehmend grassiert: «am Ende des Tages». Das ist selten eine Floskel für Erinnerungen; fast immer weist sie in die Zukunft. Das Eigentümliche daran: Der Tag ist nicht ein Tag.
«Es wird sich zeigen, wo wir am Ende des Tages stehen.» «Aber am Ende des Tages wird sich das gelohnt haben.» Vermutungen, Spekulationen, Voraussagen… Der Tag wird zur Einheit für eine angebrochene oder anstehende Phase – von Tagen, eher Wochen, wer weiss: Jahren. Er ist das, was wir gerade überblicken wollen; dahinter fängt das Unbekannte an, das Unwägbare, Dunkle.
Eigentlich reicht ja: «am Ende». Oder «schliesslich». Nur hat sich die Sprache noch nie mit dem Kürzesten zufrieden gegeben – die Sprechenden auch nicht, aus Lust an der Sprache, am Plaudern, Sich-Ausbreiten, am Überfluss. Von daher: «schliesslich und endlich», verarbeitet zu «schlussendlich».
Der überschüssige «Tag» aber beschäftigt mich. Er bezeichnet eine unterschiedlich lange Periode, hat jedoch etwas wirklich Abschliessendes: Auf ein Menschenleben bezogen wohl mehr noch als auf Arbeiten, Geschäfte, Planungen. Im Leben mag der «Tag» bis zu einer Schlussprüfung dauern. Zu einer Heirat, einer Scheidung, einem Berufswechsel? Oder bis zur Pensionierung? Vielleicht gar: bis zum – Ende?
Wir leben Tag für Tag, tagtäglich (wieder etwas zuviel). Die meiste Zeit wollen wir auch nicht weiter schauen; das «Ende des Tages» mutet uns beschaulich, versöhnlich an, Feierabend, Ausruhen, ein Gleiten in den Schlaf. Das Alltägliche verleiht uns häufig Sicherheit – oder, wenn’s schlecht läuft, wenigstens die kurze Pause am Abend. Wenn sich nun das «Ende des Tages» weiter entfernt, wenn sich die Tage bis dahin häufen, wenn wir unterdessen «betagt» werden – diese schöne Art, ums Alter herumzureden –, dann steigern sich die Gefühle, vielleicht ins Unheimliche. «Am Ende des Tages» – aller Tage – wird abgerechnet. Nach «meinem Lebtag» (miner Läbtig), wie die Alten sagten. Wird mit uns abgerechnet? Es wird Bilanz gezogen, und wie wird die ausfallen? Klar, ins Tagesgeschäft beziehen wir das kaum ein. Manchmal planen wir immerhin; doch bleiben ungezählte Möglichkeiten offen. Was wissen wir schon, wie sich Dinge entwickeln werden. Und wie wir selber. Wir haben alle – viele – einige Chancen. Das «Ende des Tages» liegt fern.
Spät, später einmal wird sich der Tag dem Ende zuneigen. Und eines Tages, eines einzigen, folgt die Nacht.
Eine Blüte noch, im «Magazin» Nr. 10/2019 gefunden: «Am Ende des Tages ist Kunst zu machen auch eine relativ einfache Sache.»
Lieber Heinz, ich überlas vermutlich bisher die Floskel «am Ende des Tages». Vielleicht lese ich zu selten Zeitungen. Hiess es früher nicht „… bis ans Ende der Tage“? Egal. Ich bin dir jedenfalls immer dankbar, wenn du mir etwas bewusst machst. Manchmal ist das „Mitbeten“ modischer Floskeln wohl auch ein Versuch zu zeigen: „Seht her, ich bin auf der Höhe der Zeit!“.