Das Wohnzimmer von Ursula Wagner erstrahlt im sommerlichen Morgenlicht – Getränke, getrocknete Mangos und Studentenfutter stehen bereit. Wir teilen uns diesen Morgen, um miteinander über das «Teilen» zu diskutieren. Im Fokus steht dabei die Generationenfrage – was hat sich in den letzten vierzig Jahren verändert? Was blieb gleich? Wir erzählen einander ähnliche Erlebnisse. Es folgen drei Arten von «teilen», aus der Sicht von Ursula als ungefähr 25-Jährige und Melina Hasler, die heute ebenso alt ist.

Getränke teilen
Ursula: Am Wochenende ist ein Sommerfest. Ein guter Grund, mich chic zu machen und mit einer Freundin dorthin zu gehen. Wir freuen uns darauf, wieder einmal zu feiern und zu tanzen. Lange Tische mit Bänken laden zum Verweilen ein. Wir setzen uns hin, bestellen ein Sinalco und ein Coca-Cola und bezahlen jede ihre Bestellung. Seit ich selber mein Geld verdiene und nicht mehr von meinen Eltern abhängig bin, bezahle ich gerne selber. Das gibt ein wunderbares Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung. Bald werden wir zum Tanzen aufgefordert. Drehen, Lachen, Flirten. Die Tanzpartner wechseln. Wir amüsieren uns. Es geht schon gegen halb 12 Uhr, als sich zwei sympathische Männer zu uns an den Tisch setzen und uns zum Tanz auffordern. Es dreht, lacht und flirtet sich leicht. Die langsamen Stücke werden eng getanzt. Es ist heiss und das Sinalco-Fläschli leer.
Was er mir zum Trinken bringen könne, fragt mich mein Tanzpartner mit charmantem Augenzwinkern. Ich überlege mir nicht lange, was für ein Getränk ich möchte, sondern nur blitzschnell, welchen Preis er wohl im Nachhinein für dieses Angebot fordern könnte. Es sei schon spät und ich müsse nun nach Hause, sage ich stattdessen zu meiner Freundin. Sie schaut mich verdutzt an, nimmt ihre Handtasche und hakt sich bei mir ein. «Weisst du, der Preis für das Gratisgetränk hätte etwas hoch werden können!» raune ich ihr zu.
Das Teilen hat hier die Bedeutung von Freundschaft zeigen, unkompliziert und locker sein.
Melina Hasler
Melina: Samstagabend, draussen ist es angenehm warm, miteinander sitzt man vor der Turnhalle, einer fröhlichen Location in Bern. Das Einzige, was nun noch fehlt, ist das kühle Bier. Schnell wird bestellt, gleich wird bezahlt. Man zückt das Portemonnaie, und im selben Moment murmelt jemand: «Diese Runde geht an mich.» So fängt der Abend in meinem Freundeskreis an. Ich spendiere die nächste Runde. Es geht zwar letztlich nie auf (mehr als drei bis vier Bier liegen bei mir nicht mehr wirklich drin). Oft bezahlt jemand gar nichts; aber alle sind bereit zu teilen. Hat meine Freundin kein Bargeld – kein Problem, sie zahlt das nächste Mal. Unter meinen Freunden vertrauen wir einander, dass niemand zu kurz kommt. Das Teilen hat hier die Bedeutung von Freundschaft zeigen, unkompliziert und locker sein. Es wird erst kompliziert, wenn ich von einem männlichen Wesen einen Drink spendiert bekomme. Hier rattert es sofort in meinem Kopf: Darf ich das Getränk annehmen, ohne dass eine bestimmte Reaktion von mir erwartet wird? Ist es vom Gegenüber ein «ehrliches» Teilen, wenn er sich damit von mir etwas verspricht? Wenn ich in eine solche Situation gerate, beharre ich sehr darauf, selber zu bezahlen. Damit meine ich überhaupt nicht, dass ich mir nicht etwas schenken lassen kann. Aber lieber zahle ich meine Konsumation selber, als dass ich mich in eine Abhängigkeit vom Spender begebe.

Emotionen teilen
Ursula: Sonnenbrille, ein Jäckli einpacken, die bequeme Hose und die weissen Turnschuhe anziehen. Ich gehe heute Abend (1977) mit einem der Kollegen aus der «hippie-Lerngruppe für junge Erwachsene» segeln. Wir fanden sofort den Draht zueinander in unserer «Schule» mit ungewöhnlichen Inhalten. Ich, engagiert, interessiert, neugierig, Singlefrau, und er ein Angestellter im Aussendienst, tiefgründig, vielseitig interessiert, verheiratet. Einmal fragte er, wer gerne mit ihm hie und da auf den See kommen würde. Seine Frau teile dieses Hobby nicht mit ihm. Einige Male waren wir gemeinsam auf dem See. Ruhiges Wasser, blauer Himmel, Möwen, wenig Wind, kein wilder Segeltörn. Eine Büchse Ravioli auf dem Gaskocher warm gemacht, eine Flasche Wein und gute Gespräche über Gott und die Welt. Eine Zeit, in der «Peace and Love» allgegenwärtig war. Die Politik, der RAF-Terror in Deutschland, die Musik der «Pink Floyd», «ABBA», «Queen» und andere Themen, aber vor allem unser persönliches Leben lieferten uns den Gesprächsstoff. Wir interessierten uns für die Ideologien, die Wünsche, die Herausforderungen des Andern. Wir kamen uns dadurch nahe. Unsere Gespräche waren ehrlich, emotional, intim. Wir erfuhren gegenseitig von den Werten des Gegenübers und scheuten keine Fragen. Wir liessen uns gegenseitig emotional berühren und es gab kaum Tabus. Wir teilten Emotionen, hatten Erkenntnisse und beschenkten uns damit. Hätte ein verheirateter Mann das alles nicht mit seiner Frau teilen müssen? War ich da fehl am Platz? Waren unsere Schiffsabende grenzwertig? Wo beginnt die Moral und wo endet sie? Sind das emotionale Berührtwerden und das Teilen von tiefgehenden Gedanken an eine bestimmte Form von Verbindung gebunden? Ausser den tiefgründigen, philosophischen Seefahrten gab es keine andere Verbindung zwischen uns.
Doch irgendwie berühren wir uns doch, sei es auch nur mit Worten. Ist dies schon Betrug?
Melina Hasler
Melina: Es ist mitten in der Nacht, die Aare zieht still an uns vorbei. Wir wissen beide, das mit uns, das wird nichts. Seine Freundin schläft irgendwo seelenruhig in ihrem gemeinsamen Bett. Er meint, mit ihr laufe es gut. Er und ich, wir sitzen gemeinsam in dieser lauen Septembernacht am Ufer und haben angeregte Gespräche. Wir kennen uns gerade mal seit etwa vier Stunden, haben uns im Ausgang angesprochen und sofort gemerkt – wir teilen viele Gemeinsamkeiten. Wir sprechen offen miteinander, so offen wie selten mit sonst jemandem. Zwischen uns besteht eine tiefe Bindung. Alles fühlt sich einfach gut an. Doch fühlt es sich auch richtig an? Wir wissen beide, wir können uns nicht näherkommen, zumindest körperlich. Doch irgendwie berühren wir uns doch, sei es auch nur mit Worten. Ist dies schon Betrug? Wir merken beide, es ist eine Grenzüberschreitung, und sprechen dies auch an. Als die Sonne langsam aufgeht, stehen wir bei der Bushaltestelle und er meint, dies sei seine beste Nacht seit Langem gewesen. Es folgt eine Umarmung. Nummern werden ausgetauscht, doch wir wissen beide – dies war einmalig.

Essen und Visionen teilen
Ursula: Neu zu sein und keine gemeinsame Vergangenheit teilen zu können, heisst, anfänglich noch nicht dazu zu gehören. Ich erlebte dieses Gefühl bei einem Stellenwechsel stark, wollte mich aber nicht einsam fühlen. Meine Vision war es, möglichst bald gut integriert zu sein. So habe ich nach einer gewissen Zeit ein Mittagessen des Kollegiums in einem Restaurant der Gemeinde vorgeschlagen. Dieses Essen wurde zu meiner grossen Freude schon bald ein traditioneller Anlass. Über viele Jahre hatte dieses monatliche Essen seinen festen Platz und diente dem beruflichen Austausch, der Organisation gemeinsamer Aufgaben und auch der Entwicklung von Freundschaften und Visionen über das Berufsfeld hinaus. Wir haben viel und laut geschwatzt, gelacht. Das war gut für die Psyche und half auch beim Pläneschmieden. Wir entwickelten Ideen, die teilweise zu gemeinsamen Resultaten führten. Wir unterstützten einander in organisatorischen Fragen und lösten anstehende Probleme oft gemeinsam. Wir waren äusserst aktiv und kreativ. Wir gründeten sogar einen Klub. So trafen wir uns für lustige Zusammenkünfte in der Freizeit abwechselnd bei jemandem zuhause.
Immer wieder in all den vielen Jahren hatten wir unvergleichliche, amüsante und fröhliche Feste, zu denen wir uns jeweils passend verkleideten. Die Familiengründungen und Karrieren verstreuten uns mit der Zeit in verschiedene Richtungen. Aber «last but not least»: Seit einigen Jahren treffen sich etliche Klubmitglieder von damals im Sommer wieder zu einem spassigen Abend mit kleinem Event, Essen, Schwatz und frohem Lachen.
Wieso kochen wir nicht etwas zusammen?
Melina Hasler
Melina: März, 2017. Der Freund meiner Schwester und ich sitzen in ihrer gemeinsamen Wohnung und haben eine Idee. Wieso kochen wir nicht etwas zusammen? Regelmässig, jede Woche am Montag? Mit all unseren Freunden? Dies ist nun über zwei Jahre her, und das gemeinsame Kochen findet immer noch statt, wurde zwar auf den Dienstag verschoben, heisst aber noch konsequent «Mäntigsznacht». Freunde kamen und gingen. Es bildete sich aber trotzdem eine feste Gruppe, ein Kern. Das Prinzip ist ganz einfach: Jede Woche wird ein anderer Ort gewählt. Egal ob in der WG oder mitten auf dem Länggass-Kreisel: jeder und jede bringt etwas mit. Bei diesen Abendessen wird jeweils heftig ausgetauscht. Es prallen Berufsgruppen aufeinander, welche unterschiedlicher nicht sein könnten. An diesen gemeinsamen Essen sind schon Projekte entstanden. So haben wir letzten Sommer alle zusammen an einer Rallye bis in die Mongolei mitgemacht. Das schweisste uns noch mehr zusammen. Unsere Vision: Später alle zusammen in einem grossen Haus zu wohnen, mit Garten, Hund und Hühnern. Und natürlich mit Kindern.
