
Die Europäische Union reagierte nach dem Kriegsausbruch im Februar 2022 rasch mit Sanktionen gegen Russland. Die Schweiz nicht. Um die Rolle der neutralen Schweiz als unparteiische Vermittlerin nicht aufs Spiel zu setzen, so der Bundesrat, entschied sie sich ursprünglich gegen die Sanktionen. Später, und erst nachdem der Bundesrat mit umfangreicher Kritik konfrontiert worden war, übernahm sie sämtliche Sanktionen der EU.
Hohe Zustimmung
Vor einigen Jahren genoss die Neutralität in der Schweiz noch eine enorm hohe Zustimmung – mehr als 90 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung sprachen sich damals für die Beibehaltung der Neutralität aus. Eine Umfrage der Militärakademie und des Centers for Security Studies der ETH Zürich, die zeitgleich durchgeführt und veröffentlicht wurde, zeigte aber auch, dass nur wenige Schweizer StimmbürgerInnen – 6 Prozent der Befragten – wirklich wissen, wo und wann die Neutralität ihren Ursprung hat. Für viele SchweizerInnen scheint die Neutralität einfach zur Schweizer Identität zu gehören.
Wie es wirklich begann
Napoleon liess zu Beginn des 19. Jahrhunderts Europa mit seinen Kriegszügen aus den Fugen geraten; nach seiner Niederlage musste der Kontinent neu aufgeteilt und organisiert werden. So trafen sich zwei Russen, zwei Engländer, ein Preusse (Vertreter aus dem heutigen Deutschland) und ein Franzose im September 1815 im noblen Wiener Palais, um zu entscheiden, wie der Kontinent zukünftig aussehen solle.
Es ging in erster Linie um Grenzverläufe, internationales Recht und die Wiederherstellung der alten Ordnung. Und dann ging es eben auch darum, was mit der Schweiz geschehen sollte. Ein paar Jahre zuvor war die Schweiz von Napoleon zur «Helvetischen Republik» erklärt worden, einem Einheitsstaat ohne föderalistische Strukturen, aber mit Rechtsgleichheit für alle.
Die Verhandlungspartner entschieden: Die Schweiz solle weiter bestehen, und zwar eben als neutrale Pufferzone zwischen Österreich und Frankreich. Ausserdem wurde die Grenze der Schweiz neu gezogen – sie verlor Veltlin, Chiavenna, Bormio und Mülhausen, gewann aber auch einige Gebiete.
«Ich wünsche mir eine Neutralität, die sich zu einer aktiven Friedenspolitik hin bewegt»
Werner Kaiser (84)
Neutralität wurde in der Schweiz immer wieder anders verstanden. Im Haager Abkommen von 1907 wurden Rechte und Pflichten neutraler Staaten festgelegt. Doch in der Auslegung entsprechend der politischen Situation fühlte sich die Schweiz meist frei. Unbestritten war immer, dass die Schweiz an keinem Konflikt anderer Länder militärisch teilnehmen sollte.
In der aktuellen Situation geht es um mehr: Soll die Schweiz, soweit es die Neutralität zulässt, mit Sanktionen oder gar Waffenlieferungen gegen ein Land vorgehen, das gegen UNO-Konventionen oder Menschenrechte verstösst? Und wenn ja, was lässt die Neutralität in einem solchen Fall zu? Seltsam, dass diese Frage bei den bisherigen und den 24 andern zurzeit wütenden Kriegen nie diskutiert wurde. Gegen die USA und den mitwirkenden europäischen Staaten im Kosovo-, Irak-, im Syrien-, im Afghanistankrieg gab es nie Sanktionen. Es ist nicht sinnvoll, die Spielregeln in einem einzelnen Fall zu ändern. Die Frage der Neutralität müsste grundsätzlich diskutiert und demokratisch entschieden werden.
Mir persönlich schwebt eine andere Neutralität vor. Ich wünsche mir eine neutrale Schweiz, die sich weg vom militärischen Denken hin zu aktiver Friedenspolitik bewegt. Eine solche Schweiz vermeidet alles, was einer Friedenslösung entgegensteht. Sie vermeidet es, mit erhobenem Zeigefinger und moralischer Entrüstung Feindbilder und Hassgefühle zu verbreiten. Sie vermeidet die Einteilung der Völker in gute und böse. Sie nimmt Abstand von den Bildern des «bösen Russen» oder der «gelben Gefahr», wie sie nun ein Jahrhundert lang gepflegt wurden. Die Medien stellen die Konflikte von beiden Seiten her dar, damit ein ausgeglichenes und damit friedenstaugliches Bild entsteht. Die Schweiz entwickelt eine lösungsorientierte Einstellung, die nach Wegen sucht, einen Krieg so rasch als möglich zu beenden und Friedensgespräche zu ermöglichen.
Hier liegt die Kraft unseres Landes. Hier genügt es allerdings nicht, wenn Bundesrat und Parlament darüber beraten. Wir alle sind gefordert. Zusammen bilden wir ein Land mit versöhnender Ausstrahlung und politischer Effizienz.

Der Wiener Kongress war für die Schweiz ein Glücksfall, denn nach dem Einzug von Napoleon und der Umstrukturierung in eine Republik verfiel der Staat in Chaos und Konflikte. Am Wiener Kongress wurden die Kantone einander gleichgestellt und so begann die Geschichte der modernen Schweiz und die Geschichte ihrer Neutralität.
Die Wahrheit hinter dem Mythos
Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts erhielt die Schweizer Neutralität ihre fast mystische Bedeutung. Es sei die Neutralität gewesen, die die Schweiz vor einem Krieg mit Nazi-Deutschland bewahrte, hörte man immer wieder sagen. Heute weiss man natürlich, es waren die wirtschaftlichen Beziehungen, die Hitlers Einmarsch in die Schweiz verhinderten.
Die Neutralität ermögliche der Schweiz, eine besondere Vermittlerrolle einzunehmen und zur allgemeinen Friedensstiftung beizutragen, ist ein anderes Argument, mit dem Neutralität oft gerechtfertigt wird. Und tatsächlich gibt es einige positive Beispiele: Der Waffenstillstandsvertrag von 2002 im Sudan wäre wohl ohne die Schweizer Diplomatie kaum zustande gekommen und auch beim Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und den Rebellen spielte die Schweiz eine zentrale Rolle. Wäre das ohne das Schweizer Neutralitätsverständnis wirklich nicht möglich gewesen?
«Dass wir als neutrales Land überhaupt Waffen produzieren und exportieren – und damit Geld machen – ist für mich unethisch.»
Lena Mathis (21)
Sowohl das Neutralitätsrecht als auch die Schweizer Neutralitätspolitik haben sich über die letzten Jahrhunderte immer wieder gewandelt. Vieles an unserer Neutralität ist politisch – die Schweiz entscheidet selbst, weiter zu gehen, als es das Neutralitätsrecht vorschreibt. Dies mit guten Gründen. Es erlaubte der Schweiz unter anderem, sich als Vermittlerin zwischen Kriegsparteien anzubieten und sich als Sitz für internationale Organisationen zu etablieren.
Neutralität bedeutet, sich aus Kriegen herauszuhalten. Die übergeordnete Funktion der Neutralität ist für mich, den Frieden zu wahren. Mir stellt sich jedoch die Frage, ob die Nichtbeteiligung an einem Konflikt immer die beste Methode ist, um den Frieden zu wahren. Mit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland einen völkerrechtswidrigen Angriff gestartet. Deswegen sehe ich die Schweiz in der Pflicht, dazu beizutragen, dass dieses Leid so schnell wie möglich endet. Den grössten Hebel sehe ich in den wirtschaftlichen Sanktionen. Denn Krieg ist teuer, und je eher Russland die Mittel fehlen, desto eher ist der Krieg vorbei.
Sanktionen haben aber auch eine Kehrseite. Sie entfalten ihre Wirkung nämlich nur dann, wenn viele Staaten mitziehen.
Manchmal kann also eine wirtschaftliche oder andere Abhängigkeit verhindern, dass ein Land einem anderen gegenüber Sanktionen ergreift. So war es für die Schweiz als Staat inmitten Europas also einfach, bei den EU-Sanktionen gegen Russland mitzuziehen. Als die USA aber 2003 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak starteten, unternahm die Schweiz keine wirtschaftlichen Sanktionen. Dass wir als neutrales Land überhaupt Waffen produzieren und exportieren – und damit Geld machen – ist für mich unethisch. Obwohl sich die Schweiz aus bewaffneten Konflikten heraushalten will, ist sie mit diesen Exporten ja doch Profiteurin von Kriegen. Wenn wir uns gegen den Krieg stellen wollen, dann sollten wir auch keine Produkte liefern, die diesen befeuern.
Neutralität ist für mich ein Mittel, um den Frieden zu fördern. Dazu gehört für mich auch, dass die Neutralitätspolitik eine bestimmte und konsistente ist. Sie soll Platz für Verhandlungen schaffen und jegliche Kriege verurteilen.

Irritierender Sonderweg
Der Historiker Hans Ulrich Jost sagt über die Neutralität: «[Sie ist] ein wunderbares Mittel, um überall mitzumischeln, ohne Verantwortung zu übernehmen.»
Als der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine begann – im Februar 2014 – nahm die Schweiz nach anfänglichem Zögern an den Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland teil. Gleichzeitig genehmigte die Schweiz während dieser Zeit Rüstungsexporte an Russland und übernahm eine Vermittlerrolle. Die Schweiz schlägt bei ihrem Verständnis der Neutralität einen Sonderweg ein, der im Ausland zunehmend irritiert.
Nicht Friedensstiftung oder Diplomatie scheint bei der Neutralitätspolitik im Vordergrund zu stehen, sondern Profit. Um das zu verschleiern, muss der Mythos aufrechterhalten werden – und das wird er mit Erfolg, so scheint es.
Am 2. November 2022 fand im IDM Thun ein Politpodium zum Thema Neutralität statt, das von Nicolas Peters (17) und seinen MitschülerInnen aus dem Freifach Politik organisiert und moderiert wurde. Das Podium kann hier nachgeschaut und nachgehört werden.
