
Ich bin nun mal Lehrer gewesen; darum erinnere ich mich an einen Grundsatz, der seiner- und meinerzeit im Schwange war: «Fördern statt fordern!» – Leitgedanke einer progressiven Pädagogik. Heute eher zurechtgebogen zu «Fördern und fordern». Wer jenen Satz ernst genommen hat, stand – vor einer Herausforderung.
Jetzt bin ich pensioniert. Und was habe ich demnach zu suchen? Klar: eine neue Herausforderung. Noch lieber mehrere.
Offensichtlich geht’s mir um ein Wort, das gegenwärtig besondere Verbreitung erfährt, das aber auch ein Kernthema unsrer Zeit anschlägt. Es werden Leute zu ihrer Lebenssituation befragt, zu ihrer Arbeit, ihrer Firma, ihrem Alter, ihren Beziehungen; und wovon sprechen sie? Von Herausforderungen.
Packen wir’s radikal an: Schon die ersten Minuten an jedem neuen Morgen stellen mir echte Herausforderungen. Das harte Vollkornbrot grad zu schneiden. Den Kühlschrank so kurz wie möglich offenzuhalten. Mich zu kämmen nicht zu vergessen. Fordere dich, um nicht träge zu werden; fordere dich gegen Alzheimer. Da lachen wir vielleicht noch…
Was steckt in dem herausfordernden Wort alles drin?
Zunächst stelle ich mir historische Formen vor. Den Handschuh, den man jemandem hinwirft. Die antiken, die biblischen Helden, die’s alleine ausfechten wollten, gar nur mit der Steinschleuder. Die Duellanten, die sich vornahmen zu treffen – oder auch nicht. Wie auch immer, ein Mensch fordert da den andern. Doch das interessiert uns heute wenig; allenfalls rutscht es in den Bereich des Sports.
Schon eher fordern wir uns eben selbst heraus. Ratgeber raten uns, uns Aufgaben zu stellen, vielleicht Kämpfe einzugehen, die uns selber nie eingefallen wären.
Herausfordern wird heute vielmehr «es»: eine Situation, Einrichtungen, etwas Anonymes, Schicksalsähnliches, wenn auch durchaus Reales. Der Mensch, der seine Stelle verloren hat – er hat sie eingebüsst, nicht jemand hat sie ihm genommen –, der steht vor Herausforderungen. Genauer betrachtet, steht er vor einer Industrie, einem Berufsfeld. Wen soll er packen? Namen-, gesichtslose Mächte verfügen über ihn; Schuld haben die keine. Sie stellen ihn irgendwo hin, oder lassen ihn in einem Regen stehen: vor… Sie wissen schon.
Wäre das Wort durch andere ersetzbar? Ja, nur hat niemand Lust darauf.
Ich habe ein Problem, meint es häufig. Gar eine Krise? – aber das tönt allzu negativ.
Besser: Ich stehe vor einer Aufgabe, Optimismus inbegriffen. Habe ein Ziel.
Aber auch: Es wird ein Anspruch an mich gestellt, au weh. Eine Prüfung.
Ich gehe ein Wagnis, ein Risiko ein: Das macht schon eher stolz.
Bin ich schlecht drauf, ist’s eine Bedrohung.
Will ich mich gut fühlen, ein Vorhaben. Schöner: ein Projekt (auch ein Modewort).
Herausforderungen sind ja wohl dazu da, dass ich sie meistere, und sie sollen mich stärken. Mag heissen: Je mehr davon, umso wirksamer – einfach kleinere, solche, denen ich gewachsen bin. Lies dir harmlose aus! Was allerdings, wenn’s nicht klappt? Wenn schon die Brotschnitte schief herauskommt oder zerbröselt?
Dann steht da noch das «heraus». Ich werde aufgefordert, herauszukommen. Woraus? Aus dem Schneckenhaus – aus dem stillen Kämmerlein – aus mir? Ein Mensch soll anscheinend nicht in sich drin bleiben, oder bei sich. Meint er denn, es reiche, wenn er von sich selber zehrt?
Komm heraus, wir (wer denn, auch hier?) wollen dich sehen. Du bist zwar schon gläsern, doch du sollst dich zeigen. Du machst dich doch gut, mit deinen Herausforderungen.
