Risikogeschichten
Meine Risikobereitschaft verschaffte mir Bewunderung
Annemarie Voss (76): Als Kind hatte ich wenig Attribute, um mich hervorzutun. Aber ich traute mich, dem Lehrer zu widersprechen, frech zu sein und die Schule zu schwänzen. Das verschaffte mir zwar keine Freundschaften, aber eine gewisse Form von Bewunderung bei meinen SchulkameradInnen, vor allem bei den schüchternen. Das Risiko, Strafaufgaben machen zu müssen oder dass meine Eltern zum Lehrer zitiert wurden, bin ich gerne eingegangen.
Die Ambulanz macht Seitensprünge
Jürg F. Krebs (76): Heute sterben auf den Strassen der Welt jährlich rund 1,3 Millionen Menschen. Früher war das Risiko noch viel grösser, eine Fahrt nicht zu überleben. Ein Grund waren technische Mängel der Fahrzeuge. In England musste ich 1966 mit einem von der Armee ausgemusterten Ambulanzfahrzeug arme, alte Leute herumkutschieren. Drei Bahren oder neun Sitze hatten darin Platz. Die Steuerung war so sehr ausgeleiert, dass die alte Kiste bei jeder Änderung der seitlichen Strassenneigung nach links oder rechts ausbrach. Nur durch schnelle Korrekturen konnte ich verhindern, dass ich in den Strassengraben oder auf die andere Fahrbahnseite fuhr. Wenn das Fahrzeug ins Schlingern geriet, kreischten die Passagiere hinten drin. Tempi über 50 km/h waren unkontrollierbar. Nach 200 Kilometern Fahrt pro Tag war ich jeweils schweissgebadet vor Anstrengung. Mit viel Glück fuhr ich während den sechs Monaten unfallfrei, so dass alle heil ankamen!
Mut zum Risiko
Gaby Jordi, (70): Eine immer wieder aufgeschobene «Lebenspendenz» mit Risikopotenzial drängte mich 2017, sie anzugehen. Ich machte mich auf die Suche nach drei Halbschwestern, von deren Existenz ich schon länger wusste. Mut und der Wille, mich dieser Pendenz zu stellen, überwogen plötzlich meine langjährige Zurückhaltung. Jetzt oder nimmer – ich werde nicht jünger! Im schlimmsten Fall erlebe ich eine Enttäuschung.
Innert Minuten gelang es mir, den gedanklich schon x-mal vorbereiteten Brief zu verfassen. Noch am selben Tag brachte ich ihn zur Post. Mein Mut zum Risiko, nicht zu wissen, was mein Brief auslöst, getragen vom Bedürfnis, endlich diesen Vorhang zu lüften, um mehr zu erfahren über einen mir bislang verborgen gebliebenen Teil meines Lebens, wird reichlich belohnt: Seit drei Jahren freue ich mich über den bereichernden Familienzuwachs!
Das liebe Geld
Heinz Gfeller (72): Wo bin ich dem Wort «Risiko» jüngst am meisten begegnet? Ich habe Unterlagen von der – meiner Bank gelesen. Und ich bin vom – von meinem Vermögensverwalter aufgeboten worden. Geld soll man anlegen.
Zugegeben, ich würde das selber kaum meistern. Vielleicht würde ich sogar zu viel riskieren? Also in die «Verlustrisiken» rutschen, die mir, neben «Chancen», angekündigt werden. Oder gar in ein «Klumpenrisiko» – was ist das, beängstigend jedenfalls? Sie erkundigen sich nach meiner «Risikofähigkeit». Bin ich fähig, wenn ich nicht bereit bin? Ich erhalte ein Profil: ein vorsichtiges. Ich passe in die unterste Kategorie, die immerhin «Ertrag» heisst – es könnte also etwas herausschauen? Die allerunterste hiess «Sicherheit», doch die ist abgeschafft.
Risiko im Operationssaal – wer hilft dem Arzt?
Hans-Peter Rub (73): Sonntag, später Abend. Morgen ist Ende des Notfalldienstes. Auch nötig, nach über 100 Stunden Wochenarbeitszeit und einem schlaflosen Wochenende funktionierst du eh nur noch wie besoffen. Dann: Nierenpatientin mit Infektion, Nieren ausgestiegen, alle Stoffwechselwerte im roten Bereich. Also Hochrisiko-Patientin. Die müssen operieren. Ich, unerfahrener Assistenzarzt, soll die Narkose machen. Der Operationssaal wird abgeriegelt, «septisch». Bleibt das Telefon an der Wand. Immerhin nimmt der diensthabende Anästhesie-Oberarzt den Anruf zügig an. Er macht sonst die Narkosen für die Herzoperationen. Von dem, was ein junger Assistenzarzt weiss oder kann, hat er keine Ahnung. So stehe ich am Telefon und notiere mir Namen und Mengen von Medikamenten, von denen ich noch nie gehört habe. Wie ein Kellner in einer Beiz im Emmental, bei welchem Hummer Thermidor bestellt wird. Hörer aufgehängt, ich schüttle nur noch den Kopf. Bin verzweifelt.
Geistesblitz – der Götti! Der «Götti» ist ein dienstälterer Kollege, den du auf Augenhöhe um Rat bitten kannst. Und ich kriege ihn tatsächlich ans Telefon! Er beruhigt, weiss natürlich, dass ich mit dem «Menü» des Oberarztes gar nichts anfangen kann: «Hör zu, das machst du jetzt ganz einfach so…» Und es klappt, die Patientin übersteht den Eingriff gut. Die Chirurgen haben wohl kaum was von meinen Nöten mitgekriegt, die waren ja auch schon alle stockmüde.
«Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.»
Walter Winkler (82): Im August machte ich wieder mal was, was ich schon immer wollte – einen Tandem-Fallschirmabsprung aus 4000 m. 3000 m freier Fall, 1000 m gemütliches Runtergleiten. Ich weihte meinen Sohn und meine Tochter ein, man weiss ja nie, wann man sich zum letzten Mal sieht. Joschi, mein Tandempilot, hatte schon eine 94-jährige Frau aus Reichenbach, wo wir starteten, lebendig runtergebracht. Ich war todsicher, dass auch ich das schaffe. Vier weitere Tandems stiegen ein. Alles junge. Mit meinen 82 Jährchen kam ich mir schon ein bisschen alt vor.
Der Niesen mit seinen 2000 m schien mir immer kleiner. Nach 20 Minuten waren wir auf der Absprunghöhe. Der Rollladen ging hoch, kalter Wind: Jetzt wird’s ernst. Joschi sagte mir, ich MÜSSE in den Himmel schauen und mit ihm nach vorne rutschen. Wir zischten durch die Lüfte. Ich musste die Arme wie ein Vogel ausbreiten, es einfach fliegen lassen. Wunderbar. Dann aber ein grosses Rütteln und Schütteln. Der Fallschirm ging bei 1000 m auf und wir segelten gemütlich zu Boden. Risiko hin oder her, ich werde es nie bereuen.
Gedankenaustausch am Runden Tisch
Kalkulierbares Risiko
Paula Grandjean (23) betreibt «Risikosportarten», aber auf nicht so riskante Weise. Am Beispiel von Skitouren und Bergsteigen zeigt sie, dass Kriterien wie Wetter, Geografie ja bekannt sind und beim Abwägen helfen. So dass sie sich auch mal entschliessen kann, ein Risiko auszulassen: «Ich will’s ein anderes Mal versuchen.» Allerdings können nicht alle Zufälle ausgeschlossen werden: «Die Lawine weiss nicht, ob du Expertin bist.» In ihrem bisherigen Werdegang, meint Jus-Studentin Paula, habe sie nie vor grossen Risiken gestanden. Die Zukunft wird aber bestimmt einige riskante Entscheidungen bringen.
Der Reiz des Ungewissen
Für Annemarie ist selbstverständlich, dass sie sich als junge Frau viel mehr in Gefahren begeben hat; als Beispiel nennt sie ihre Solo-Autostopp-Tour durch Skandinavien. Auch nach einer heiklen Situation in einem Camion blieb der Reiz, umgedreht wurde nicht. Annemarie versteht immer noch nicht, dass man auf etwas verzichtet aus Angst, es könnte misslingen. Kommt denn Scheitern einer Blamage gleich?
Minimieren – reglementieren?
Hans-Peter denkt, seine Eltern hätten ihn schon zur Vorsicht angeleitet: «Hast du das gut überlegt?» Er sei es gewohnt, Risiken zu minimieren, Sicherheit anzustreben. Erst recht als Arzt. Wenn dieser das Risiko für den Patienten einschätzt, stützt er sich auf verlässliche statistische Werte. Nun zeichnet sich aber zunehmend ein Risiko für die MedizinerInnen ab: Ursprünglich mit der Absicht, PatientInnen noch besser zu schützen – werden immer mehr juristische Reglemente erlassen.
ÄrztInnen müssen sich immer häufiger fragen, ob sie etwas unternehmen, weswegen sie verklagt werden, «an die Kasse kommen» könnten. Ein Muster aus Amerika – auch bei uns! Hans-Peter nennt es «eine Unkultur: Man darf nicht scheitern, man wird dafür abgestraft.»
Allzu eingeschränkt
Elias Gobeli (20) geht gern Risiken ein. Er steigt auf die wacklige Leiter, auf die andere sich nicht trauen. Allerdings erinnert er sich auch, wie er eine Stunde lang oben auf dem 5-Meter-Brett stand, ohne zu springen; dabei wusste er, die Kollegen schauten zu. Die Frage, ob wir heute zu vielen Vorschriften unterworfen seien, bejaht er eindeutig. So stösst er in Thun vielerorts auf «Essen verboten». Er wünscht sich «eine Gegenbewegung». Er denkt auch, er habe Cannabis geraucht, eben weil das ein Verstoss war. Adrenalin, findet Elias, verhilft uns zu besonders starken Erinnerungen. Und für Heldentaten – nicht nur kriegerische, auch humanitäre – braucht es Risikobereitschaft. Fortschritt entsteht wohl daraus, dass wir Grenzen ausloten.
«Adrenalin verhilft zu besonders starken Erinnerungen.»
Elias Gobeli, 20
Neue Risiken gesucht
Bin ich oft feige, fragt sich Heinz; er zweifelt an seiner Zivilcourage: der, die dich in einer heiklen Situation eingreifen lässt, auch wenn du selber in Gefahr gerätst. Er stellt zur Diskussion, ob all die Fortschritte, die immer mehr Sicherheit bringen, uns veranlassen, neue Risiken zu ersinnen, wie etwa halsbrecherische Sportarten, die wir ja freiwillig auslesen. Der waghalsige Skifahrer, dem die Pisten Komfort, aber auch Vorschriften bieten, wird sich nebenaus schlagen. In den Medien sind «Challenges» – oft stupide – beliebt.
Erst im Nachhinein
«Wie viel Herausforderung braucht der Mensch?», fragt Ahmad Zaidan (35). Er glaubt, er habe oft erst unterwegs erkannt, was für Risiken er eingegangen sei. Ein harmloses Beispiel vom Rummelplatz: Erst oben im Aufzug, der einen dann im freien Fall sausen lässt, hat er sich gesträubt. Das Bauchgefühl hat Ahmad bei wichtigen Entscheidungen geleitet: einen vielversprechenden Beruf aufzugeben, um eine ganz andere Ausbildung anzufangen, ohne die Job-Aussichten zu analysieren. Manchmal sehen wir wirklich nur hintendrein, welchen Risiken wir begegnet sind. So fasst Hans-Peter seinen Rückblick – der Menschen, welche gerne planen, ernüchtern dürfte – zusammen: «Wie viele Zufälle, auch wie viel Glück habe ich im Leben erfahren!»
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