Liebe Annemarie,
stell dir vor, du wärst heute noch einmal 20 Jahre alt. Was würdest du anders machen? Welche Möglichkeiten, die junge Frauen heute haben, würdest du gerne nutzen?
Liebe Grüsse Annina
Liebe Annina,
das ist zwar schwer vorstellbar, aber ich weiss noch genau, wie ich mich gefühlt habe, als ich 20 Jahre alt war. Ich war immer ungeduldig, habe Entscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen, das würde ich heute weniger tun. Weg wollte ich – unbedingt! Weg von zu Hause, weg von meinem Freund, da lief alles schief, und so bin ich nach London gegangen, als «mother’s help». Ich liess mich über ein Büro vermitteln, wollte allerdings nicht in die grosse Stadt, sondern nach Brighton oder sonstwo ans Meer, in ein Kinderheim oder Spital, sicher nicht zu einer Familie. Da ich nicht warten konnte, kam dennoch nur eine Familie in Frage, und die war in London und entpuppte sich als Glücksfall. Er Schauspieler und Regisseur, sie Hausfrau und Teilzeitjournalistin, mit drei Töchtern im Alter zwischen 14 und 22 Jahren. Ich wurde als Familienmitglied aufgenommen und lernte eine neue Welt kennen. Ich lernte Kultur kennen, wurde in Museen geschickt, ins Theater mitgenommen, konnte Musik hören – ich war fasziniert. Vielleicht ist mir der Theatervirus da schon übertragen worden, obwohl es danach noch Jahre dauerte, bis ich selber auch Theater machte. Das war eine gute Entscheidung, aber es hätte auch schief gehen können.
Und ja…, abstimmen durften wir auch noch nicht.
Heute würde ich allerdings meine Aus-und Weiterbildung höher bewerten und mehr Energie dafür aufwenden. Ich wollte damals so schnell wie möglich selber Geld verdienen und unabhängig sein. Es wurde mir auch vermittelt, dass meine Ausbildung nicht besonders wichtig sei, da ich bald heiraten und Kinder haben würde. Geheiratet habe ich zweimal, Kinder habe ich nie bekommen und deshalb bin ich ein Leben lang berufstätig gewesen. Und ich weiss, es hätte mehr drin gelegen, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte.
Was die Möglichkeiten betrifft, die junge Frauen heute haben, so fällt mir keine ein, die ich gerne nutzen würde. Die hatten wir damals schon, wenn man einmal davon absieht, dass Frauen nicht zu allen Berufen Zugang hatten, weil es einfach Männer- und Frauenberufe gab. Und ja…, abstimmen durften wir auch noch nicht.
Aber stell dir vor, damals gab es die Beatles, den Minirock, neu «die Pille», die Hippiebewegung. Wir fühlten uns frei, die Gesellschaft war jung (jedenfalls empfanden wird das so) und wir waren sicher, dass die Zukunft uns gehört und dass wir den Lauf der Welt verändern können.
Was daraus geworden ist? Es gibt noch immer viel zu tun.
Liebe Grüsse, Annemarie
Ein Beitrag aus der Serie:
Frauen – wir müssen reden!
Jetzt muss geredet werden: In dieser Serie fassen Frauen aus der UND-Redaktion in Worte, was ihnen unter den Nägeln brennt, und nehmen ihre Geschlechtsgenossinnen in die Pflicht.