Das nächtliche Ticken
Miriam Weber (20): Rauchwolken bilden sich rund um meinen Kopf. Mein Rücken ist steif und das Handgelenk schmerzt. Mein hellwacher Geist und sein eingeschlafener Körper vertragen sich nur schlecht mit dem Blick auf die Uhr. Während draussen die Welt tief schläft, befinde ich mich mal wieder in meinem kreativen Film, könnte Bücher schreiben und Leinwände bemalen, bis die Sonne aufgeht. Bis ihre Strahlen gegen meinen Willen meine Kreativität in Licht auflösen. Mit theatralischem Seufzen klappe ich mein Notizbuch zu. Ich lege mich ins Bett, doch der Film läuft weiter. Jede Sekunde, in der ich nur liege, scheint mir verschwendet. Doch heute bin ich stärker als das fleissige Schreiberlein in mir. Die letzten kreativen Gedanken schaffen es knapp auf Papier, bevor ich mich der Müdigkeit hingebe und einmal mehr übers Eulen-Dasein meiner Kreativität fluche. Ihr determiniertes Uhrwerk bleibt für mich unverstellbar.
Fantasie gefragt!
Vreni von Känel (66): Däumchen drehend sitze ich im Wohnzimmer – soll ich oder doch lieber nicht? Nach langem Zögern entscheide ich mich, in den Keller zu gehen. In der Bastelecke türmen sich Schwemmholz, Steine, Muscheln und vieles mehr. Ein Schwemmholz nehme ich in die Hand und überlege, was ich damit anfangen könnte. Ich möchte irgendetwas basteln, habe aber noch keine Ahnung, was es werden könnte. Ist das nun kreativ? Vor lauter Nachdenken vergesse ich den Heissleim. Er tropft aufs Holz – Mist! Mit einem Tuch versuche ich, die Leimspuren zu entfernen, das Tuch klebt am Holz und meine Finger kleben am Tuch – unmögliches Gebastel! Warum mache ich das alles? Ich weiss doch schon jetzt, dass es ein unnützer Staubfänger wird, der dann jahrelang im Keller rumliegt. Und trotzdem – ein weiteres Stück Schwemmholz wird aufs erste geklebt, ein Loch in den Stein gebohrt, und mit viel Enthusiasmus und Leim entsteht «Der Denker». Der Stein erhält ein Gesicht und das Halstuch verbindet die unschönen Stellen zwischen Rumpf und Kopf. Von weitem betrachte ich mein Werk und ein gutes Gefühl umgibt mich – jetzt habe ich etwas wirklich Kreatives gemacht!
Krea… was?
Jovana Nikic (20): «Sie haben 90 Minuten Zeit»: Höre ich diese Worte aus dem Mund meiner Deutschlehrerin, beginnt alles in mir sich dagegen zu sträuben, einen Text zu verfassen. Ich merke, wie meine Gedanken und Blicke leer werden. Entgeistert starre ich in eine Ecke und kaue an meinem mit alten Bissabdrücken verzierten Stift: Ich bin nicht kreativ – nicht jetzt! Die Vorstellung, immer gleichwertig über seine Kreativität verfügen zu können, ist utopisch. Sie ist keine Konstante, deren ich mich bedienen kann. Vielmehr eine Wundertüte, bei der ich nie weiss, ob sie leer oder bis zum Rand gefüllt ist. Kämpft Motivation mit dem inneren Schweinehund, muss Kreativität meine innere Schweinekatze sein, die sich anschleicht, wenn es ihr passt, sich kraulen lässt, doch wenn ich mich zwinge, kreativ zu sein, hebt sie arrogant den Kopf. Jeder Versuch sie zu streicheln, scheitert kläglich – so mein Aufsatz.
Schub gegen Stau
Andreas Steinman (76): Da ich gerne etwas aufschreibe, bin ich darauf angewiesen, dass mich die Muse der Kreativität ab und zu küsst. Ich habe zum Beispiel angefangen, Tagebücher nachzulesen und Erinnerungen aus meiner Jugendzeit neu aufzuschreiben. So sitze ich oft buchstäblich stundenlang vor dem Mac und vergesse dabei sogar, dass es Zeit gewesen wäre, etwas zum Mittagessen zu kochen. Aber oft sitze ich auch vor dem Mac und suche nach einer guten Formulierung. Sie will mir aber einfach nicht in den Sinn kommen. Alles langweilig, belanglos, unbrauchbar. Dann denke ich mir: «Für was mache ich das alles, es wird ja sowieso nichts Rechtes draus!» Das nennt man dann wohl einen Kreativitätsstau. Mein Trost dabei: Sogar berühmte SchriftstellerInnen sollen ja öfters vor einem weissen Blatt sitzen und nicht wissen, wie anfangen. Das stimmt auch für meine bescheidenen Bemühungen: Den richtigen Anfang einer Geschichte zu finden, ist oft das Schwierigste. Nicht nur beim Schreiben, sondern auch beim Vorlesen berndeutscher Geschichten, meiner eigenen und derjenigen von andern AutorInnen, darf ich ebenfalls kreativ sein. Aber auch beim Singen im Gospelchor Schönau. Gospelmusik lebt ja geradezu von Kreativität und Inspiration. Doch ich muss dabei immer aufpassen, dass mein Kreativitätsschub nicht mit mir durchgeht. Ich singe ja im Chor und darf und soll meine Kreativität zwar ausleben, muss sie aber auch kontrollieren können. Es gäbe noch einiges zu erzählen, aber eben gerade suche ich nach einem passenden Schluss zum Thema «Kreativität». Wer hilft mir dabei?