Selten habe ich so viele, gut angezogene junge Menschen auf einem Haufen gesehen. Nie habe ich mit Menschen aus 120 Nationen dieser Welt in einem riesigen Kongresssaal «We are the World» gesungen. Das «Harvard World Model United Nations 2016» (WorldMUN) in Rom (vom 14. – 18. März) startet in einem farbenfrohen Meer aus Flaggen.
Eine einzigartige Woche steht uns bevor: Debatten und Resolutionen in den verschiedenen Komitees, zahlreiche Kontakte mit Menschen aus aller Welt, legendäre «Social Events» und vieles mehr. Gespannt erwarten wir die Eröffnungszeremonie der Konferenz. Wir, das ist die 19-köpfige Delegation von MUN Universität Bern, die für eine ganze Woche nach Rom gereist ist. Wir sind hier, um den «Spirit of MUN» zu erleben.
Ein erstes Highlight ist eine Ansprache von Matteo Renzi, Premierminister von Italien. Renzi schneidet die drei Themen an, die besonders Europa in diesen Tagen am Meisten beschäftigen – Terror, Populismus und die Flüchtlingskrise. Er spricht ausserdem davon, wie wichtig die junge Generation ist:
«Ohne die Präsenz einer jungen Generation Menschen, die an eine andere Welt glaubt, sind die Anstrengungen der Regierungen und der UNO nicht imstande, die Situation zu ändern. Eure Rolle ist entscheidend.»
Reden vor – verhandeln hinter den Kulissen
Das eigentliche Herzstück einer MUN-Konferenz sind die «Committee Sessions», bei denen die Delegierten in einem Komitee zur Verabschiedung einer Resolution zusammenkommen.
Dieses Mal habe ich die Ehre, Kuba in der «World Conference on Women» gemeinsam mit meiner Co-Delegierten Leslie zu vertreten. Insgesamt sind 100 Länder in Doppeldelegationen vertreten.
Schon zu Beginn splittet sich das Komitee in zwei Gruppen: die offiziellen Debatten und Statements im Sitzungszimmer, die informellen Verhandlungen und die Blockbildung ausserhalb des Zimmers. Hier draussen geht es hektisch zu und her: Grüppchen von Delegierten entwerfen Arbeitspapiere, diskutieren die Machbarkeit ihrer Ideen und versuchen, andere Länder von ihrer Position zu überzeugen. In den richtigen UNO-Konferenzen wird es wohl nicht viel anders sein: Während im Scheinwerferlicht die wichtigen VertreterInnen der Länder Applaus für ihre geschliffene Rhetorik ernten, geschieht die eigentliche Arbeit hinter den Kulissen.

Bei bis zu 400 Leuten, je nach Komitee, gilt hier Anarchie. Der Stärkere und Schnellere gewinnt. Wer das Arbeitspapier auf seinem Laptop schreibt hat die Kontrolle. Jede und jeder ist erpicht darauf, den Vorschlag seines Landes als Massnahme in die Resolution zu schreiben und möglichst zu verhindern, dass irgendwo eine Klausel steht, die nicht mit der Politik des jeweiligen Landes vereinbar ist.
Während Kubas wichtigste Verbündete im Komitee nicht vertreten waren und wir im Kielwasser der anderen Blocks vor uns hindümpelten, überraschten uns die USA mit einer freundschaftlichen Einladung zur Kooperation mit ihrem Block.
Auch wenn der Realitätsbezug manchmal zu wünschen übrig lässt sind solche UNO-Simulationen lehrreich und interessant.
Der Spirit of MUN
Sobald die Verhandlungen gegen Abend geschlossen sind, werden die diskutierten Themen und die gespielte Nationalität der Delegierten für den Rest des Tages vergessen. Nur die ganz Verbissenen feilen weiter an der Formulierung ihrer Resolution.
Jeden Abend hat das «Host Team» – das Organisationsteam von der Universität La Sapienza in Rom – eine riesige Motto-Party organisiert, bei denen die Delegierten wieder zu jungen Menschen werden und bis tief in die Nacht feiern, tanzen und neue Freundschaften schliessen. Auch das ist der «Spirit of MUN».
Ob der Kopf am nächsten Morgen ob zu viel «Cuba Libre» brummt oder nicht, um neun Uhr stehen wir wieder auf der Matte und sind bereit für die nächste Runde der Verhandlungen.
Der Segen des Papstes
Einen Tag Pause legen wir in unseren Verhandlungen dann doch ein, um dem Papst einen Besuch abzustatten. Keiner der 2’500 Delegierten will sich die Möglichkeit nehmen lassen, beim Papst eine Privataudienz zu erhalten, und so werden wir nach langem Anstehen beim Security-Check am Eingang in den Vatikan in die riesige Audienzhalle gelassen.

Unsere Aufregung ist bereits während der einstündigen Wartezeit spürbar. Als der Heilige Vater dann endlich den Raum betritt, wird er – wie ein Rockstar – mit tosendem Applaus und Jubelrufen begrüsst. Er spricht in seiner Rede ebenfalls vom Terrorismus und von Flüchtlingen, doch nicht wie Renzi zuvor unter einem politischen, sondern unter einem humanitären, christlichen Aspekt.
Junge Menschen aus aller Welt und aller Glaubensrichtungen hören diesem alten, weisen und meines Erachtens sehr sympathischen Mann gebannt zu.
Als StudentInnen, meint der Papst, trügen wir insbesondere zur Findung der Wahrheit und des Verständnisses bei, mit welchen wir unser, aber auch das Wohl unserer regionalen Gemeinschaften und der ganzen Menschheit anstreben.
«In diesen Tagen werdet ihr eine Menge voneinander lernen und werdet einander daran erinnern, dass hinter jeder Schwierigkeit, die sich unserer Welt stellt, Menschen stehen, Männer und Frauen, Junge und Alte, Menschen, wie ihr es seid.»
Nach der kurzen aber bewegenden Rede gibt uns der Papst schliesslich seinen Segen, grüsst diejenigen in der ersten Reihe persönlich und lässt sogar ein Selfie mit sich machen. Ein Delegierter von MUN Bern, ein gebürtiger Kolumbianer, kann bei dieser Gelegenheit dem Oberhaupt seiner Kirche die Hand schütteln. Er lässt uns später wissen, dass dies der glücklichste Tag in seinem Leben sei.
Der Schwan und der Patriotismus
Nach diesem aufregenden Vormittag starten alle Delegierten zusammen eine Parade vom Vatikan durch die ganze Altstadt Roms bis ins Kolosseum. Es wehen Flaggen von 120 Ländern, während wir über die Engelsbrücke marschieren und Nationalhymnen erklingen, als wir durch das Forum Romanum spazieren.
Am lautesten singen die VenezolanerInnen, welche wahrscheinlich auch die grösste Delegation stellen. Besonders stolz auf ihre Heimat scheinen aber auch die Französinnen und Franzosen zu sein, welche während der ganzen Parade ihre «Marseillaise» zum Besten geben oder aber die AmerikanerInnen, welche mit lauten «USA»-Rufen ihre Präsenz markieren. Wir BernerInnen sind in dieser Hinsicht allerdings nicht so patriotisch, denn weiter als «… seh ich dich im Strahlenmeer ….» kommen wir nicht. Und so erklingen eben Göläs «Schwan» und Polos «Alperose» durch Roms Gassen.
Einzigartige Erfahrung
Alles in allem ist dieses WorldMUN eine einzigartige Erfahrung. Noch nie habe ich so viele junge, motivierte Menschen an einem Ort angetroffen, welche sich stark machen, um für die aktuellsten Probleme unserer Welt Lösungen zu finden. Obwohl wir SchweizerInnen uns ab den italienischen Organisationskünsten – Generalstreik inklusive – manchmal die Haare raufen, erleben wir eine unvergessliche Zeit mit unserer tollen Delegation in einer der schönsten Städte unseres Kontinents. Ich habe neue Freundschaften geschlossen, welche ich auch ausserhalb der MUNs pflegen werde.
Debattieren, Lösungen finden, neue Kontakte aus aller Welt knüpfen und dabei eine Menge Spass haben, das ist der Sinn solcher MUNs.
Was ist MUN?
Model United Nations, kurz MUN, steht für die Simulation der Vereinten Nationen, die von SchülerInnen oder StudentInnen durchgeführt wird. Das heisst, dass eine internationale Konferenz oder ein Gremium imitiert wird, wobei über ein spezifisches Thema debattiert und anschliessend eine Resolution verabschiedet wird. Die Verhandlungen finden meistens in Englisch statt.
Die TeilnehmerInnen übernehmen darin die Rolle der DiplomatInnen und vertreten ein Land – meistens gerade nicht ihr Heimatland. Eine solche Konferenz wird komplett von StudentInnen organisiert und durchgeführt.
Jedes Jahr finden zahlreiche internationale Konferenzen statt, bei denen Delegationen aus aller Welt anreisen, um aktuelle Themen zu diskutieren und neue, internationale Kontakte zu knüpfen.
Das Harvard World Model United Nations, an dem die UND Autorinnen Tanja Mitric und Annina Reusser teilgenommen haben, gilt als die weltweit grösste und wichtigste MUN-Konferenz. Sie findet jedes Jahr an einem andern Ort statt und wird gemeinsam von der Harvard Universität und der jeweils lokalen Partner-Universität organisiert. Im 25. WorldMUN in Rom nahmen 2‘500 «Delegierte» aus 120 Ländern teil.