Ein Leben, von Ritualen getragen
Werner Kaiser: Wir haben viel Schlimmes über die katholische Kirche vernommen. Und es gibt dabei auch gar nichts zu verharmlosen. Doch ich habe in meiner Kindheit auch eine andere Seite kennengelernt, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Wenn ich in die Schule oder sonst ausser Haus ging, tauchte meine Mutter einen Finger ins Weihwasser-Geschirr und zeichnete mir ein Kreuz auf die Stirn. Abends sassen wir, die ganze Familie, im Halbkreis in der Stube und beteten den Rosenkranz, in ähnlicher Formation wie Familien heute die Tagesschau sehen. Wenn Gewitter drohten, nahm die Mutter ein Zweiglein, das am Palmsonntag gesegnet worden war, und zündete es an. Es sollte Schutz bieten, wie heute der Blitzableiter. In der Adventszeit konnten wir, immer wenn wir etwas Gutes getan hatten, einen Strohhalm in die Krippe legen, damit das Christkind an Weihnachten in der Krippe weich liegen konnte. Wir können darüber lächeln, für mich als Kind gab es meinem Handeln Wert.

«Es war meine Welt»
Ich ging oft zur Kirche. In meinem Tagebuch, das ich ab zehn Jahren schrieb, lese ich, dass ich am Sonntag zweimal zur Messe ging, um neun Uhr und nochmals am Nachmittag. Ich wirkte als Messdiener. Dafür musste ich lange lateinische Texte auswendig lernen und hersagen. In der Adventszeit fand mehrmals in der Woche am frühen Morgen die Rorate-Messe statt. Da stapfte ich durch den hohen Schnee den Hügel hinauf zur Kirche.
Tat ich das alles gerne? Vermutlich nicht immer. Und später, als Adoleszent, lehnte ich das Ganze als oberflächliches Getue ab. Doch im Tagebuch erscheint keine einzige Klage. Es war einfach meine Welt. Und sie gab mir auch Heimat, Geborgenheit. Die vielen Feste im Kirchenjahr gaben dem Jahr einen Rhythmus und eine Bedeutung. Der Himmel war nicht ein leeres, unendliches Universum. Er wölbte sich bergend über uns und bot ein Gefühl von Zuhause.
Vielleicht idealisiere ich heute das alles. Sicher gab es auch Zwang und einen engen, moralisierenden Rahmen. Es fehlte das, was wir heute schätzen: Freiheit, eigenständiges Denken, Eigenverantwortung. Und doch, etwas von dem, was ich damals erlebte, fehlt mir in unserer Welt: Zeiten, strukturiert von sinngebenden Ritualen, ein festes Weltbild, das nicht immer im Zweifel stand. Heute müssen (oder dürfen) wir uns selber zurechtfinden, und die Gefahr besteht, dass wir in der grossen Unsicherheit uns irgendwo anhängen, wo Zweifel wirklich berechtigt sind.
Wo Menschen einander Heimat
sein können
Sabina Ingold: Manchmal frage ich mich, was wird bleiben von den riesigen Mauern und Türmen der Kirchen, die wir erbauten? Was wird bleiben von unseren Ritualen und Bräuchen, den Texten, die wir lesen, den Liedern, die wir singen, und all den Gebeten?
In Gremien und Arbeitsgruppen wird hitzig diskutiert über schwindende Mitgliederzahlen, sinkende Kirchensteuereinnahmen, neue Strategien und Prozessoptimierungen. Zweifelsohne wichtige Themen. Die reformierte Landeskirche von heute ist ein komplexer Betrieb, eingebunden in zahlreiche karitative Aufgaben. Sie ist Ritualbegleiterin bei Trauerfeiern, Taufen und Hochzeiten, Gastgeberin bei kulturellen und gemeinnützigen Anlässen. Sie ist Immobilienverwalterin und verantwortlich für zahlreiche Mitarbeitende. Doch vermag sie noch über ihren Glauben zu reden? Von der christlichen Botschaft Zeugnis abzulegen, die immer blasser und fremder wird unter den endlosen Diskussionen, bis sie ihr entschwindet und nichts bleibt ausser Schweigen? Ist die Kirche von heute den Menschen noch eine Heimat?

«Wieder näher bei den Menschen»
Mag sein, dass viel zerfallen wird. Verlassen die riesigen Mauern und Türme der Kirchen. Vergessen die Rituale und Bräuche. Die Kirche von übermorgen wird eine kleinere und bescheidenere Kirche sein. Kein komplexer Betrieb und keine Immobilienverwaltung mehr. Weniger mit sich selbst beschäftigt, aber vielleicht, so meine Vision, wieder hellhöriger für die Fragen und Nöte der Menschen. Bereit, sich neu auf die Gesellschaft einzulassen, sich der Gesellschaft zuzumuten, nicht nur mit ihren Anlässen, sondern auch mit ihrer Botschaft und ihrem Glauben.
Ich träume von einer Kirche, die wieder näher bei den Menschen ist. Einer Kirche, die Kraft aus der gelebten Gemeinschaft schöpft. Einer Gemeinschaft, die zusammen alte und neue Rituale und Bräuche feiert, Texte liest und Lieder singt. Vor allem aber träume ich von einer Kirche, in der die Menschen einander Heimat sind. Eine Gemeinschaft, die den Menschen trägt in der Mitte des Lebens, aber auch an dessen Rändern, in Krankheit, Tod, Zweifel, Hoffnungslosigkeit, in Versagen und Schuld.
Manchmal frage ich mich, was wird bleiben, und hoffe, dass eine Kirche bleiben wird, in der man über Gott reden kann, aber nicht muss. Eine Gemeinschaft, die das Schwere und Tiefe nicht wegwischt, sondern Worte dafür hat, immer wieder neu sucht und auch das Schweigen erträgt. Ein Ort, an dem auch die Tränen geweint werden können, die man sonst nicht weinen könnte. Eine Kirche, die bereit ist am Reich Gottes zu bauen, und nicht nur an bestehenden Verhältnissen festhält.