Die Kolumnen von Jung und Alt. Hier berichten abwechslungsweise die UND RedaktorInnen Jürg Krebs, Livia Thurian,
Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.

Meine kurzen Finger umklammern das lahm schmeckende, aber dafür teure Manora-Sandwich. Tomaten, Mozzarella, Salzgurken quellen zwischen den Weissbrotscheiben hervor. Scheisse, ich esse wie ein Schwein! Neben mir eine ältere Frau, die bereits den leeren Teller vor sich stehen hat. Sie ist eigentlich weisshaarig – dies verrät aber nur ihr Scheitel. Melancholisch blickt sie durch die Glasscheibe hinaus, schielt aber immer wieder zu mir herüber. Sie sieht also alles: Wie ich meine Finger verschmiere, sie ablecke, die Serviette nirgends finde, mich umblicke, ob jemand zuschaut. Seitenblicke während des Essens, Beobachtung beim Sauen? Gar nicht mein Ding.
Jetzt hat sie meine Aufmerksamkeit
Ich versuche, die Seniorin zu ignorieren. Stattdessen widme ich meine Aufmerksamkeit der neu erworbenen Moleskine-Agenda. Sie ist von einem schönen, satten Blau (Königsblau oder eher Cyan?), von Juli 15 bis Dezember 16 reichend, schön klein und dünn und praktisch.. – «Entschuldigung, ist dieses Sandwich ohne Fleisch?», klinkt sich nun die Dame in meine Gedankenwelt ein. Menschenliebe, ein gewisses Harmoniebedürfnis sowie erlernte soziale Normen bringen mich dazu, freundlich lächelnd zu antworten: «Ja, dieses Sandwich ist vegetarisch». Nun hat sie mich soweit, die Lady – jetzt hat sie meine Aufmerksamkeit.
Weiter, nicht schnell aber dafür stetig, sprudelt es nun aus ihr heraus: Es sei heiss hier, aber sie sitze halt gern hier – hinter der Scheibe liessen sich Leute beobachten. Es habe viele dunkelhäutige Menschen unten auf der Strasse. Aber sie habe nichts gegen Ausländer. Sie seien einfach ganz, ganz anders. Es gebe so viel Krieg auf der Welt. Plötzlich schweift sie – oder besser, hüpft sie – vom Thema ab, spricht über einen Mann, der stets auf dem Busperron steht und scheinbar Leute kontrolliert, über Kindergartenkinder, die sie jeden Mittag draussen stehen sieht, und darüber, dass es schwer sein könne, eine Familie zu ernähren. Ich füge hie und da ein «Hm», «Ja genau», «Ach, wirklich?» ein – das nennt sich «aktives Zuhören mit dem von-sich-geben von bestätigenden Lauten». So lernen wir das zumindest im Studium.
Quatscht sie immer?
Ich ertappe mich also dabei, wie ich die arme Frau «psychologisiere». Ist die schon ein bisschen dement? Ist sie einsam und kommt deshalb vielleicht jeden Tag hierher? Quatscht sie immer alle Leute an? Dabei weiss ich doch eigentlich gar nichts über die Frau. Man sollte doch Menschen einfach so annehmen können, wie sie sind. Oder einfach auch einmal sagen können, dass man nun gerne in Ruhe sein Sandwich essen würde.
UND die Kolumnen
Livia Thurian studiert Psychologie und Philosophie in Bern, mag Musik und kochen und wohnt in Thun. Abwechslungsweise schreiben als Kolumnisten Jürg Krebs, Livia Thurian, Heinz Gfeller und Elias Rüegsegger.