Die dritten Zähne
Erika Kestenholz (73)
Letzthin musste ich eine Entscheidung fällen, die wohl eher älteren Semestern vorbehalten ist. Ein Spruch sagt, dass jedes Kind die Mutter einen Zahn koste. Das traf bei mir zu und ich muss sagen, es entstanden in letzter Zeit einige Lücken. Unter anderem musste eine Brücke raus, die auf wackeligen Pfeilern stand. Allerdings möchte ich dafür nicht den Kindern die Schuld in die Schuhe schieben. Die Ursache ist vielmehr eine gewisse Naschhaftigkeit der Mutter. Was nun? Eine Teilprothese oder Implantate? Ich sprach mit Leuten, mit ZahnärztInnen. Implantate sind eine elegante Lösung. Sie sind unsichtbar und ich glaube, damit fühlt man sich weniger alt. Eine Zeitlang war ich hin- und hergerissen, aber dann war ich mir sicher, dass die Hygiene einfacher aufrechtzuerhalten sein wird, wenn ich über 100 Jahre alt bin und die Prothese einfach in ein Glas legen kann.
Zahnlücke mit 20 ?
Iva Carapovic (22)
Neulich erzählte mir Erika von der typischen Entscheidung im Alter: Implantat oder Prothese? Das kam mir leider bekannt vor, dabei habe ich doch erst vor Kurzem meine Milchzähne verloren! Naja, nicht alle. Denn wegen einer Fehlbildung im Gebiss folgen an zwei Stellen keine neuen Zähne. Ich wusste das und ging davon aus, dass mich meine Milchzähne noch lange begleiten werden, weil ja kein anderer Zahn drängte. Denkste! Letztes Jahr machte es sich der Milchzahn mit seinen Wurzeln zwischen den «normalen» Zähnen etwas zu gemütlich, es kam zu einer Entzündung – und er musste entfernt werden. Plötzlich hatte ich also wieder eine Zahnlücke, und es fühlte sich nicht richtig an. So musste ich mich Anfang Zwanzig für ein Implantat entscheiden. Der zweite Milchzahn hält sich noch tapfer. Ich hoffe schwer, dass dieser mich nicht im Stich lässt. Oder zumindest bis zu dem Alter hält, in dem ich mich der Prothese-oder-Implantat-Frage stellen kann.
In Sekundenbruchteilen
Heinrich Kienholz (72)
Anfang 1974, Wintersemester Medizinstudium Uni Bern. Wir waren der erste Jahrgang eines neuen Ausbildungskonzeptes, in dem das letzte Jahr als ein sogenanntes Wahlstudienjahr den StudentInnen ermöglichte, in verschiedenen Institutionen Praktika zu absolvieren. An einer Informationsveranstaltung über die verschiedenen Praktikumsplätze wurde einer kleinen Anzahl von Studierenden die Möglichkeit eines Aufenthaltes im damaligen Duke of Harrar Hospital in Addis Abeba angeboten, dessen Inbetriebnahme einige Zeit vorher von der Uni Bern unter der Ägide von Prof. Maurice Müller an die Hand genommen worden war.
Die Möglichkeit eines Auslandaufenthaltes und erst noch in einem fernen Kontinent lag damals ausserhalb meines Vorstellungs- und Erfahrungshorizontes. Und doch wusste ich noch während der Präsentation dieses Projektes sofort und ohne zu zögern, dass ich dorthin gehen würde. Ich meldete mich denn auch gleich am Schluss der Veranstaltung an. Im Juli 1974 landete ich nach einem langen Nachtflug mit MitstudentInnen und vor allem auch mit meiner Freundin, die ich einige Monate vorher als Pflegefachfrau in einem Spital kennengelernt hatte und der dank einiger Glücksfälle (und wohl auch dank einer gewissen Hartnäckigkeit meinerseits) eine Stelle im selben Spital zugesprochen worden war, in Addis Abeba. Es war Regenzeit. Dunkle Wolken hingen über der Stadt. Es roch nach Eukalyptus und dem Rauch von Holzfeuern. Wir waren in Afrika angekommen, diesem faszinierenden Kontinent, der unser zukünftiges gemeinsames Leben ganz entscheidend prägen sollte.
«Und doch wusste ich noch während der Präsentation dieses Projektes sofort und ohne zu zögern, dass ich dorthin gehen würde»
Heinrich Kienholz
Da brach ich aus
Telsche Keese (83)
Es ist 1957, die Zeit der autoritären Väter, sie bestimmen den Wohnsitz. Es sind Sommerferien und etwas mehr als ein Jahr vor meinem Abitur. Eine Nachricht flattert ins Haus: «Wegen ungenügender Leistungen in Deutsch und Mathematik sehen wir uns leider gezwungen, Ihre Tochter vom Gymnasium zu weisen.» Ich weiss, was das bedeutet, ringe wochenlang mit meinen Eltern um Erlaubnis, zu tun, was ich in mir spüre und unbedingt will. Die Drohung meines Vaters lautet: «Wenn du in der Schule nicht funktionierst, kommst du runter von der Schule und wirst Friseuse.»
Die Fronten sind verhärtet. Keine Entspannung. Ich bleibe hartnäckig, denn ich spüre es so deutlich: Ich werde es ihnen beweisen, ich kann das, ich will das, es liegt an der Lehrerin. Wie könnte es anders sein? Ich will zu meiner Freundin, sechs Schnellzugstunden von unserem Wohnort entfernt, das ist mein Plan, dort wird es klappen. «Bei miesen Mathenoten», schreibt sie, «kannst du hier in den musischen Zweig wechseln.» Kurz vor Ende der Sommerferien ruft mich mein Vater, streckt mir 50 DM hin. «Am Bremer Bahnhof ist ein christliches Hospiz, dort kannst du schlafen.» Immer, wenn ich später die dünne Quittung über 5 DM für eine Übernachtung betrachtete, wurde es mir warm ums Herz.
Es kommt anders
Annemarie Voss (75)
Ich gehe weit zurück, bis 1966. Ich hatte meine Lehre beendet und wollte endlich weit weg von zuhause. England schien mir verlockend, konnte ich doch auch noch eine Sprache lernen. Teil der Entscheidung war auch, dass ich sicher nicht nach London wollte und auf gar keinen Fall in eine Familie. Putzen und Kinder hüten fand ich nicht verlockend. Ich wollte an die Küste in ein Kinderheim, oder zumindest ein Alters- oder Pflegeheim. Da ich sofort nach England wollte, wurde mir nur eine Stelle in einer Familie in London angeboten. Ich sagte zu, überzeugt, dass ich mich dann vor Ort weiter umschauen würde.
Die Familie in London bestand aus einer verheirateten Frau mit drei Töchtern, der Mann war sehr selten zu Hause, da er ein in England sehr bekannter Schauspieler und Regisseur war. Er war meistens in den USA, aber auch in anderen Ländern beruflich unterwegs. Die Töchter waren 13, 17 und 23 Jahre alt. Also Kinder hüten war schon mal nicht angesagt, putzen aber schon. Dass dies eines meiner besten Jahre werden würde, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich wurde herzlich aufgenommen, hatte Familienanschluss und konnte spontan Freunde zum Essen mitbringen. Die ganze Familie war sehr an Kultur interessiert und ich erhielt Tipps, wo eine tolle Ausstellung, ein gutes Konzert oder eine besondere Aufführung war. In den ersten Wochen besuchte ich mangels Englisch-Kenntnissen meistens Kinos. Für eine Kulturbanausin wie mich tat sich eine Welt auf. Es war ein Jahr, das mich nachhaltig beeinflusst hat und an das ich sehr gerne zurück denke.
Bevor ich studieren geh’ …
Arbër Shala (27)
Als Kind war ich immer davon ausgegangen, dass ich nach der obligatorischen Schulzeit und der Mittelschule direkt ein Studium in Angriff nehme. Bei meinen Eltern war es schliesslich nicht anders, durchliefen sie doch auch eine akademische Laufbahn. Mein Bruder allerdings hatte sich nach der obligatorischen Schule dazu entschlossen, einer beruflichen Ausbildung nachzugehen und später über diesen Weg zu studieren. Das hat mir damals imponiert; ich war deswegen hin- und hergerissen. Viele meiner Jugendfreunde fingen auch nicht direkt ein Studium an, sondern gingen auf Reisen, erfüllten ihre Dienstpflicht oder engagierten sich in wohltätigen Bereichen.
Menschen wie ich neigen dazu, bei Entscheidungen Pro- und Kontralisten zu erstellen. Als ich meine Liste anschaute, stach es mir in die Augen: Eine Berufsausbildung sollte es sein! Ich nahm demnach eine kaufmännische Ausbildung in Angriff und ging danach studieren. Viele Leute waren zunächst überrascht darüber, aber mir war’s schliesslich egal. Ich ging meinen Weg, es stimmte so für mich. Wenn ich mich wieder entscheiden müsste, würde ich es genauso machen, und das ist gut so.
«Wenn ich mich wieder entscheiden müsste, würde ich es genauso machen, und das ist gut so.»
Arbër Shala