«You only live once» oder «yolo» wie die Jungen auch häufig zu pflegen sagen. So wird jeder Moment zu etwas Besonderem und meistens mit einer Selfie-Kamera festgehalten. Festhalten ist hier vielleicht der falsche Begriff. Denn kurz darauf werden nur die aussergewöhnlichsten Bilder mit einem Filter bearbeitet und an alle Engsten, auch BFFL oder Best friends for life, verschickt. Auf den sozialen Netzwerken, wobei ich zweifle, wie sozial diese wirklich sind, werden die Aufnahmen gepostet, geteilt und getwittert. Alle Freunde und Followers sollen am Geschehenen wahrhaftig partizipieren können, das Bild durch liken oder hearten bewerten, sowie kommentieren und wild in der Weltgeschichte weiterverbreiten.
Solche Gedanken gehen vermutlich einer älteren Person durch den Kopf, wenn die heutigen Teenager exklusive Fotoshootings mitten im Getümmel veranstalten.
Doch die beschauliche Stimmung ist nach ein paar wenigen Minuten bereits vorbei.
Ein perfekt geeigneter Ort für stimmungsvolle Bilder befindet sich etwas oberhalb der Stadt Thun, das Jakobshübeli. Hier wird ein umwerfender Ausblick auf die Stadt möglich. Am schönsten ist es, wenn die Lichter zu leuchten beginnen und es langsam dämmert. Die Sonne verschwindet hinter den Hügeln, die Stimmung ist unbeschreiblich.
An jenem Sonntagabend, kurz bevor der Alltagsstress wieder beginnt entschliessen sich mein Kollege und ich, die Aussichtsplattform zu besteigen um ein wenig Energie zu tanken und einander hoffentlich etwas näher zu kommen. Doch die beschauliche Stimmung ist nach ein paar wenigen Minuten bereits vorbei.
Zu stark ist das Kribbeln in meinem Bauch, welches durch herumfliegende Schmetterlinge hervorgerufen wird. Und es zuckt in meinem Daumen, die Stimmen in meinem Gehirn schreien: «Yolo, dieser Augenblick muss festgehalten werden!» Aber nein, ich will diesen Moment geniessen! Ausgerechnet jetzt betritt eine Gruppe von alten und jungen Leuten laut lachend das Jakobshübeli.
Zuerst fangen sie mit ihren Spiegelreflexkameras ganz genüsslich die letzten Sonnenstrahlen und die ersten Mondfacetten ein. Durch verrenkte Haltungen versuchen sie die aufregendste Perspektive für einen Bildausschnitt zu erlangen. Fotografierende unter sich, denke ich mir.
Plötzlich aber beginnen sie, auf dem schmalen Geländer herumzuturnen und sich in Pose zu werfen. Hüpfend, tanzend und zum Schluss in Herzform lassen die Models gefühlte 10’000 Aufnahmen von sich machen. Die romantische Stimmung zerfällt und mir stellt sich die Frage: Wer setzt sich hier lieber selber in Szene, die altersdurchmischten FotografInnen oder ich mich mit meinem iPhone?
Schwerpunkt #Nacht
Zeit der Ruhe – oder doch nicht? Was wir alles in der #Nacht tun. Das ist der Schwerpunkt von UND im Herbst 2017.