
Dahinscheiden. Entschlummern. Den Löffel abgeben. Die Radieschen von unten ansehen. Ins Gras beissen. Den Jordan überschreiten. – Das Sterben ist Gegenstand vieler Mythen, vermeintlich kluger Sprüche, Hoffnungen – und blüht uns allen irgendwann einmal. Es ist keine schöne Vorstellung, wenn man das Sterben als biologische Kettenreaktion betrachtet: Zuerst setzen Atmung und Herzschlag aus. Anschliessend sterben nach und nach die Gehirnzellen ab. Damit schwindet die Gehirnaktivität und mit ihr die Wahrnehmung, das Bewusstsein und die Steuerung des zentralen Nervensystems. Was «danach» kommt, hat uns noch niemand erzählt. Das klingt doch erst mal ziemlich niederschmetternd.
Umstrittenes Tabu
Die biologische und objektiv beobachtbare Kettenreaktion «Sterben» läuft bei jedem Menschen gleich ab. Die inneren Haltungen der Sterbenden aber sind sehr unterschiedlich. Einzelne Menschen wollen ihr Leben selber beenden, sei es aus einem Bedürfnis nach Selbstbestimmung am Lebensende oder auch aus tiefer Verzweiflung. Manche Sterbenden klammern sich mit aller Kraft ans Leben und nutzen jegliche lebensverlängernden medizinischen Möglichkeiten. So unterschiedlich die Haltungen dem Sterben gegenüber sind, so unterschiedlich wird gestorben. Verschiedene Moralvorstellungen spielen hier mit. Das Thema Sterben ist ein Tabu, und darüber, wie am besten gestorben werden soll, finden zahlreiche politische Debatten statt.
Loslassen – ein Unwort
Sterben und sterben lassen bedeutet einen Verlust für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Viele Menschen sprechen in diesem Zusammenhang von «loslassen-können». Nicht so Frieda Hachen (62), Beauftragte Alter und Generationen der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn: Dauere ein Sterbeprozess länger, werde oft davon gesprochen, dass die Person nicht loslassen könne. «Für mich ist das ein Unwort». Es verunmögliche, die Bedürfnisse der Menschen zu verstehen. Beim Sterben gehe es nämlich um anderes, zum Beispiel darum, wie Sterben als ganzer Prozess verlaufe.
Sterben verbindet
In der Schweiz sterben viele Menschen in einem hohen Alter. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Frau Schweizer beträgt 84 Jahre, für Herrn Schweizer sind es 81 Jahre. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich die meisten Menschen erst im Alter mit dem Tod befassen. Aber auch junge Menschen können damit konfrontiert werden, sei es beispielsweise durch den Tod des Grossvaters, einen Unfall oder durch eine schwere Krankheit. Der Tod ist der gemeinsame Weg aller Menschen. Er verbindet Jung und Alt, er verbindet die Generationen – ob sie es wollen oder nicht.
Autonomes Sterben
Wenn im Alter das Herz nicht mehr gut funktioniert, jeder Schritt Mühe bereitet oder die Beine gar nicht mehr wollen; wenn Sauerstoff nötig wird, Einsamkeit oder Depressionen ständige Begleiter werden und dunkle Gedanken einen bedrängen; dann kann dies zum Wunsch nach einem erlösenden Ende führen. Die Alters- und Generationenbeauftragte Hachen meint: «Dass der Wunsch, sterben zu wollen, geäussert wird, ist verständlich, aber er kann ganz Verschiedenes bedeuten». Vielleicht wolle der Mensch wirklich sterben, aber vielleicht fühle er sich auch einsam, vielleicht habe er Angst. Diese verschiedenen Aspekte müsse man beachten, wenn man einen Menschen mit Todeswunsch begleite. Im Zusammenhang mit dem autonomen Sterben wird die Medizin vor immer grössere Herausforderungen gestellt. So zum Beispiel, wenn ein 93-jähriger Mann an Lungenentzündung erkrankt und keine lebensverlängernden Massnahmen wünscht. Sind Antibiotika in diesem Fall lebens- oder nur leidensverlängernd?
Zur Person
Frieda Hachen (62), arbeitet als Beauftragte Alter und Generationen der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Dort engagiert sie sich für die Anliegen alter Menschen und für eine Alters- und Abschiedskultur. Sie arbeitet in der Kampagne «Alles hat seine Zeit. Das hohe Alter in unserer Gesellschaft» mit. Dort schult Frieda Hachen Personen, welche in den einzelnen Kichgemeinden in diesem Bereich arbeiten. Sie wünscht sich dereinst als alte Frau von den Jungen die Bereitschaft, sie verstehen zu wollen und sie – trotz rasanter Entwicklung in der medialen Welt – stets mit Neuem zu konfrontieren. lth/gjo
Frieda Hachen findet: «Die Medizin muss lernen, nicht nur zu heilen, sondern die Menschen auch im Sterben zu begleiten». Heutzutage gibt es Möglichkeiten zur aktiven Sterbehilfe. Nebst der Palliativmedizin, wo der Sterbende medizinisch begleitet wird, damit er möglichst wenig leiden muss, gibt es auch Sterbehilfeorganisationen. Diese begleiten und betreuen den Sterbenden und die Angehörigen. Sie verhelfen mit dem Medikament Natrium-Pentobarbital zu einem schmerzfreien und sicheren Tod, was «assistierter Suizid» genannt wird. Die Organisationen unterstützen zudem Angehörige eines Sterbenden, wenn es beispielsweise nach einem Unfall darum geht, eine Patientenverfügung durchzusetzen.
Verständnis statt Zahlen
Frieda Hachen warnt, in unserer Leistungsgesellschaft könne ein gesellschaftlicher Druck auf die alten Menschen zu assistiertem Suizid entstehen. Man müsse darum prüfen, ob ein Mensch nicht aus Angst oder Einsamkeit aus dem Leben gehen wolle. Hinzukommen könne für Menschen der vierten Lebensphase – ab 80 Jahren – das Gefühl, sie seien eine Last für ihre Angehörigen und die Gesellschaft überhaupt.

Diese Gedanken können aufkommen, wenn man nur die Zahlen betrachtet: Die Gesundheitskosten aller SchweizerInnen der vierten Lebensphase betragen pro Jahr rund 500 Millionen Franken. Für ein menschliches Miteinander jedoch wäre es verheerend, bloss diese Zahlen zu betrachten. Frieda Hachen meint, dass so auch der Beitrag, den ältere Menschen in Form von Steuern und freiwilliger Arbeit leisten, nicht wertgeschätzt werde. Sie plädiert für eine verständnis- und rücksichtsvolle Gesellschaft. Ihr ist ein differenziertes Bild sehr wichtig, auch gerade beim Thema Sterben. «Ich finde, man sollte nicht einfach sagen «Ich bin für die Sterbehilfe» oder «Ich bin dagegen». Denn jeder Fall sei ganz anders.
Eine sorgende Gesellschaft
Als Frieda Hachen kürzlich an einem Fest war, erzählte ihr eine Bekannte vom assistierten Suizid ihrer Mutter. In derselben Woche erfuhr Frieda Hachen von einem Bekannten, wie es damals für ihn gewesen war, als der Vater beschlossen hatte, mit Sterbehilfe sein Leben zu beenden. Ihr Fazit:
Das Thema Sterben beschäftigt die Leute stark und das Bedürfnis ist da, offen darüber zu sprechen.
Sie wünscht sich deshalb eine Art «Lebensende-Beratungsstelle», wo jede und jeder, ob jung oder alt, über Sterben, Tod und die damit verbundenen Fragen und Ängste sprechen kann. «Exit, Kirche oder Palliativ Care ist schön und gut, doch eine unabhängige Stelle, die das ganze Thema wertfrei betrachtet, fehlt meiner Meinung nach.» Und nicht zuletzt wünscht sich Frieda Hachen «eine sorgende Gesellschaft, in der wir aufeinander Acht geben und uns stets bemühen, einander zu verstehen.»
Ihre Meinung
Was sind Ihre Gedanken zum Thema? Wir interessieren uns für Ihre Meinung oder ihre Geschichte.