Wie sollen Jung und Alt miteinander umgehen? Tolerant! Aber was heisst Toleranz – und wo sind die Grenzen? UND-Autor Elias Rüegsegger auf der Suche nach einem menschlichen Miteinander der Generationen.
Der folgende Text ist eine Verschriftlichung des Vortrags «Toleranz zwischen den Generationen», den Elias Rüegsegger am Freitag, 9. Januar 2015, anlässlich der Toleranz-Woche der Kirchgemeinde Hilterfingen gehalten hat.
«Eine Woche lang geht es hier um Toleranz. Und damit auch um die Grenzen der Toleranz. Oder darum, wie Toleranz mit der Intoleranz umgeht. Seit Mittwoch dieser Woche hat dieses Thema mit dem Terror-Anschlag in Paris auf «Charlie Hebdo» eine neue Brisanz und eine neue Dimension erhalten.

Heute Abend steht aber das Thema «Toleranz zwischen den Generationen» im Zentrum. Ich möchte auf Toleranz zwischen Jung und Alt in ihrem alltäglichen Zusammenleben eingehen. Denn hier sind wir alle betroffen. Vielleicht sind zurzeit die Gedanken darüber, wie wir Toleranz leben sollen, wichtiger als je zuvor.
Was ist Toleranz? Ich versuche es mal so:
Schön! Schön, dass Sie hier sind. Manche hier kennen sich, manche nicht. Einige sind alleine da, andere zu zweit – mit der Partnerin, mit dem Partner, möglicherweise als Familie. Einige waren schon an den vorangehenden Veranstaltungen zum Thema Toleranz hier, andere nicht.
Manche haben heute gearbeitet, einige zu Hause die Rechnungen geschrieben, die Toiletten geputzt – vielleicht auch schon ein bisschen die Beine hochgestreckt. Jemand hat heute möglicherweise eine Prüfung geschrieben oder einen wichtigen Auftritt gehabt.
Vielleicht ist jemandem von Ihnen vor Kurzem ein lieber Mensch gestorben. Vielleicht sind Sie frisch verliebt. Oder haben Grosskinder gekriegt. Vielleicht leidet jemand unter einer schweren Krankheit. Vielleicht sind einige unter uns einsam. Vielleicht sind wir alleine. Möglicherweise sind wir aber auch glücklich. Zufrieden. Vielleicht hatten Sie auch eine spannende Begegnung im Zug. Hoffentlich eine konstruktivere als jene im Stück von vorhin.
Wer sind Sie? Wer bist du? Wer bin ich? Wer sind wir? Ich weiss es nicht. Aber Sie sind hier. Und das freut mich. Und ich hoffe, dass es Sie auch freut, dass Sie hier sind.
Wer mit solchen Fragen auf einen Menschen zugeht, ohne vorgefertigte Meinungen, hat eine offene Haltung. Wäre das Toleranz?
Wir Menschen begegnen einander tagtäglich – Jung und Alt. Wir gehen miteinander um – ganz selbstverständlich. Wir sitzen nebeneinander im Zug, kaufen in der selben Bäckerei die selben Gipfeli. Scheinbar klappt das mit der Toleranz ganz gut. Und doch scheint diese Toleranz löchrig zu sein. Leben wir im Alltag wirkliche Toleranz? Haben wir eine falsche Idee von der Toleranz?
Diese Woche, noch vor dem Anschlag auf Charlie Hebdo, schrieb Sibylle Berg in ihrer aktuellen «Spiegel Online»-Kolumne, die ganz gut zu unserem Thema passt:
«Wir wollen andere immer von dem Stuss überzeugen, den wir uns so ausdenken. Ich bin ein wunderbares Beispiel dafür. Überzeugt von meiner kleinen friedvollen Welt, in der alle gleich sind und ein paar ungleicher. Ich verachte Pöbler, Schläger, Nazis, Fundamentalisten, Populisten, Nervensägen allesamt, aber vermutlich haben sie alle in ihrer Welt recht.»
Sibylle Berg entdeckt an sich zugespitzte Meinungen. Jeder von uns hat seine Werte und wir als Gemeinschaft haben ebenfalls Werte – und die auch zu Recht. Zum Beispiel Meinungsfreiheit. Wie gehe ich nun mit meinen Werten um, wenn diese angegriffen werden? Müssen wir alles tolerieren? Dies fragt auch Sibylle Berg:
«Kuschel mit dem Nazi. Streichle den Sarrazin. Mach Frieden mit dem Idioten, der glaubt, klüger zu sein als jede Frau, nur weil er eben keine Frau ist, kraul den Rassisten, tanz mit dem Menschen, der sein Kind zart züchtigt. Es geht nicht.»
Es geht nicht. Und uns allen leuchtet ein, dass wir nicht alles tolerieren können. Und wir wollen auch nicht alles tolerieren. Das haben auch eindrücklich die weltweiten Solidarisierungsreaktionen «Je suis Charlie» gezeigt. Toleranz darf nicht heissen, dass wir unsere Werte verleugnen. Und meist ziehen wir die Grenze der Toleranz ungefähr da, wo jemand in seiner Freiheit die Freiheit von anderen verletzt. Über diese Grenze muss immer wieder neu diskutiert werden. Sibylle Berg beendet ihre Neujahrskolumne wie folgt:
«Das Quatschwort des vergangenen Jahres – Toleranz – bedeutet nichts. Es versagt, sobald man glaubt, im Recht zu sein. Also immer. Machen wir einfach weiter wie gehabt. Hassen wir, pöbeln wir. Ich bin dabei.»
Toleranz – nur ein Quatschwort? Wenn wir Toleranz so verstehen, dass wir alles tolerieren («Kuschel mit dem Nazi»), dann ja – dann ist Toleranz ein Quatschwort. Und umgekehrt: Wenn Toleranz heisst, dass wir dann doch immer glauben, im Recht zu sein und nur unsere Meinung ins Zentrum stellen, dann ja – dann ist Toleranz ein Quatschwort.
Suchen wir weiter: Was könnte Toleranz also noch sein?
Es ist an der Zeit, diesem Wort auf die Schliche zu kommen. Das Verb «tolerieren» geht auf das lateinische tolerare zurück. Das bedeutet «ertragen» und «erdulden.» Das Wort ist auch verwandt mit dem deutschen «dulden.» Ein toleranter Mensch ist demnach duldsam, er akzeptiert etwas, wie es ist.
Die alte Frau und der junge Mann im Zug: Sie sind tolerant. Sie akzeptieren das Gegenüber, machen einigermassen freundlich den Platz frei. Sie existieren nebeneinander. Nebeneinander. Sie akzeptieren, dass da gegenüber einer sitzt. Der ist jetzt halt so ein Junger. Und die da: so eine Alte. Wir machen uns zwar Bilder. Der ist anders, er ist halt so. Aber ich sag es ihm nicht. Darum bin ich tolerant? In unserem Stück nerven sich die beiden gedanklich über das Gegenüber. Wenn der junge Mann von vorhin denkt: Nein, jetzt muss ich neben der Alten sitzen, fragt er gleichzeitig freundlich, ob der Platz noch frei ist. Innerlich stuft er also die Frau herab und sich hinauf. Er fühlt sich selbst besser und sieht den anderen als schlechter an. Es entsteht eine Hierarchie. Tolerieren im Sinn von «ich lass den anderen machen ohne ihm reinzureden»? Ich unterwerfe mich dem Lauf der Dinge – es muss wohl so sein… Diese Auslegung des Begriffs ist für mich nicht ein Lebensrezept. Leben und Leben lassen – ist nicht gerade das auch intolerant, weil wir gar nicht erst aufeinander eingehen müssen?
Ist das Toleranz?
Ich muss ehrlich zugeben: Ein Leben in einer solchen Toleranz ist wohl weder erstrebenswert noch menschlich. Denn es bleibt beim Ko-Existieren. Wir gehen nicht aufeinander ein. Toleranz, so verstanden, ist also das falsche Wort für etwas, das zwischen den Menschen sein sollte, damit ein Miteinander gelingt. Ein Miteinander.
Man kann auch sagen: Immerhin Toleranz?
Wir könnten auch sagen: Immerhin Toleranz. Immerhin lassen Jung und Alt im Stück einander leben. Und damit wäre manchem Konflikt auf dieser Erde schon massiv geholfen.
In meiner Arbeit bei UND ist die Frage nach der Toleranz zentral. Junge und Alte arbeiten bei UND freiwillig und sind daher auch mit Herzblut dabei – und auch verletzlich. Ein toleranter Umgang ist wichtig. Aber nach welchem Toleranzbegriff? Ich formuliere nun vier Aspekte einer Toleranz, wie sie aus meiner Sicht erstrebenswert wäre.
1. Toleranz ohne richtig und falsch
Sibylle Berg sagt: «Toleranz versagt, sobald wir glauben im Recht zu sein.» Wenn wir das weiterdenken, bedeutet das: Tolerant sein können wir nur, wenn wir unser Richtig und unser Falsch nicht ins Zentrum stellen. Mein Richtig muss nicht richtig sein. Und das Falsch, das ich an dir erkenne, muss nicht falsch sein . Ein tolerantes Miteinander also im Bewusstsein darin, dass es kein Richtig und Falsch gibt. Oder zumindest nichts, das wir wirklich als richtig beweisen können.
2. Toleranz mit offenen Fragen
Und so kann ich heute Abend Ihnen gegenüber sagen: Schön, dass Sie hier sind. Und dies im Wissen, dass ich Ihre ganz persönliche Geschichte nicht kenne. Und im Bewusstsein, dass ich auch meine ganz persönliche Geschichte abschliessend nie wirklich kennen kann, das ist meine tiefe Überzeugung. Und hierin sind wir Menschen alle vereint. In diesem Unwissen. Oder schöner formuliert: In diesem Wissen über das Unwissen. Oder wie Sokrates in seiner Verteidigungsrede sagte: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Sokrates fragte ja sein Gegenüber immer solange aus, bis dieser sich in Widersprüche verstrickte und zugab: Ich weiss es nicht. Aber auch Sokrates weiss keine definitive Antwort auf eine Frage. Aber er enttarnt das Scheinwissen als solches. Und damit weiss er eigentlich schon wieder mehr. Daraus entsteht für mich ein Bewusstsein, welches für das Zusammenleben zwischen Menschen ganz grundsätzlich und für das Zusammenleben der Generationen ganz spezifisch zentral ist.
3. Tolerant sein: Auf Augenhöhe sein
Was hat das folglich mit dem Dialog und dem Umgang zwischen den Menschen und den Generationen zu tun? Für meine Arbeit beim UND mit Jung und Alt brauche ich und brauchen alle im Team viel Zeit für den Dialog. Damit wir Vorurteile übereinander abbauen können. Dass wir Bilder haben ist ganz natürlich. Manchmal ärgere ich mich über das Gegenüber, über den älteren Kollegen, der wiederum viel zu viel Text geschrieben hat. Oder über die gleichaltrige Kollegin, die nicht auf meine Mail reagiert.
Für die Arbeit mit verschiedenen Generationen braucht es viel Zeit.
Es braucht eine gute Kommunikation. Und es braucht einen Willen für diesen Austausch. Und dafür braucht es wiederum: den Austausch auf Augenhöhe. Das heisst, ich sehe mein Gegenüber als mir ebenbürtig an. Und das ist im Generationendialog ein schwieriges Thema. Weil ja der Alte vis-a-vis schon länger lebt, mehr Erfahrungen gemacht hat. Vielleicht weise ist. Dennoch müssen wir einander auf Augenhöhe, ohne Hierarchie begegnen können. So entsteht ein offener Austausch. Und so fühlen sich beide gleichermassen angenommen.
Toleranz heisst: Ich muss den anderen für voll nehmen. Ihn als «mir gleichgestellt» sehen. Ihm auf Augenhöhe begegnen.
Als vierter Ansatzpunkt – und ich nenne ihn bewusst zuletzt:
4. Toleranz gegenüber mir selber
Toleranz heisst nicht, dass ich meine Meinung nicht vertreten darf. Im Gegenteil. Ich muss mich und meine Meinung ernst nehmen. Auch mir selber Toleranz entgegen bringen. Mir persönlich ist die Meinungsfreiheit ein unglaublich wichtiges Gut. Ich selbst interessiere mich sehr für Kommunikation und für Journalismus. Seit Mittwoch fühle ich mich, wie wahrscheinlich viele, persönlich angegriffen. Und dass wir uns so fühlen, das müssen wir akzeptieren. Und unsere Gefühle und Gedanken müssen wir äussern dürfen. Und jeder vor uns sollte die Gelegenheit haben, dass andere Menschen ihm zuhören. Dafür braucht aber jeder selber auch den Mut und die Toleranz, seine Meinung überhaupt sagen zu wollen.
Toleranz ohne richtig und falsch
Toleranz mit offenen Fragen
Toleranz auf Augenhöhe
Toleranz gegenüber mir selber
Ich denke, es ist wichtig, immer wieder einander und uns selbst zu fragen:
Welche Toleranz hilft uns? Welche Toleranz.
Mit Toleranz beschäftigte sich die Kirchgemeinde Hilterfingen eine Woche lang. Mit fünf verschiedenen Programmpunkten zwischen dem 4. und dem 11. Januar 2015 bot die Hilterfinger Kirche dem Thema einen Platz. Am Freitag, 9. Januar trat in diesem Rahmen auch ein UND-Team auf und brachte das Stück «Wenn Jung und Alt…» zum zweiten Mal zur Aufführung. Bereits im Rahmen des Thuner Adventskalenders wurde das Stück in Wort und Musik aufgeführt. Elias Rüegsegger, der redaktionelle Leiter von UND, hielt im Anschluss einen Vortrag zu Toleranz zwischen den Generationen. Dieser Artikel ist die verschriftlichte Version des Vortrags.
Hallo Elias
Deine Gedanken zur Toleranz finde ich interessant und bedenkenswert. Ich selbst brauche lieber das alte Wort „Achtung“ (vor anderen Menschen, mir fremden Sichtweisen etc.), weil das Wort Toleranz eine Überheblichkeit enthält: „Eigentlich ist deine Meinung falsch, aber ich toleriere das.“ Oder: „Eigentlich bist du ein Depp, aber ich bin so grosszügig und toleriere dich.“ Ich habe aber verstanden, dass du Toleranz anders definierst.