
Für viele Menschen in unserer Gesellschaft ist sie ein grosser Schatz. Vielleicht sogar der grösste, den es gibt. Sie ist das Ziel, die Hoffnung und der Weg. Sie ist Bewegung und Fortschritt und sie ruft die grössten Freuden hervor. Doch gleichzeitig ist sie der tiefste Abgrund und die grösste Angst. Sie bringt den Schmerz und den Tod, lässt bestehende Systeme einstürzen und verwandelt Gutes in Trümmerhaufen. Ihr kontroverser Charakter hat es sogar geschafft, die Gesellschaft grundlegend in zwei Gruppen zu spalten. Wir sprechen von links und rechts, von konservativ und liberal, von Demokraten und Republikanern, von Daoismus und Konfuzianismus. Wie sollen wir mit ihr umgehen? Sie macht das Leben aus – doch sollten wir sie fördern oder eindämmen? Sollten wir uns vor ihr fürchten oder unsere Hoffnung auf sie setzen? Wer ist sie, die uns derart herausfordern kann? Es ist die Veränderung.
Sie ist wie ein Wanderweg, der durch dichten Nebel führt. Dieser kann sowohl aufwärts als auch abwärts führen. Er kann sowohl angenehm zu gehen sein als auch durch Morast und Dornen führen. Eines jedoch ist gewiss: Er geht immer vorwärts und hört erst am Ende unseres Lebens auf. Es ist unmöglich, zu sehen, wohin er uns gerade bringt, denn wir können nur den Boden vor unseren Füssen erkennen. Sollten wir auf diesem Pfad rennen oder doch lieber stehen bleiben?
Eine Auswirkung von Vorsicht
Der Begriff Stagnation wird meist negativ assoziiert. So wirkt auch der Ausdruck «ewiges Eis» nicht gerade berauschend – es sei denn, man ist Klimaaktivist und denkt dabei an unsere Gletscher.
Die meisten würden wohl darin übereinstimmen, dass es sich nicht lohnt, ein Leben lang stehen zu bleiben. Stellen wir uns ein Kind vor, das sich nach seiner Geburt nicht mehr verändert, aus Angst vor einer negativen Entwicklung. Niemand würde sein Kind derartig zum Stillstand erziehen wollen, ganz abgesehen davon, dass es auch nicht in der Natur der Dinge liegt, so zu stagnieren. Stattdessen geht man das Risiko ein, dass das Verhalten des Kindes womöglich negative Auswirkungen haben könnte.
«Gerade in der Religion und der Politik können vorschnelle Veränderungen verheerend sein.»
Jonas Eggenberger
Dasselbe gilt auch für die Politik. So wie Menschen und Gesellschaft sich verändern, muss sich auch ein politisches System verändern können. Feudalismus würde beispielsweise kaum noch in unsere moderne Gesellschaft passen – gut, dass wir nicht auf dem nebligen Weg stehen geblieben, sondern ein paar gute Schritte weiter nach oben gegangen sind. Trotzdem herrscht gerade in der Politik ein starker Drang, Bestehendes zu erhalten und Veränderungen zu minimieren. Noch stärker findet sich diese Angst vor Veränderung in der Religion.

Es lohnt sich aber, einen zweiten Blick darauf zu werfen, woher diese Bedenken kommen. Wer schon mal im dichten Nebel einen Bergwanderweg beschritten hat, wird wissen, dass es keine gute Idee ist, diesem Pfad ohne Halt entlang zu rennen. So ist es auch verständlich, warum die Veränderung manchmal gebremst und eingedämmt werden muss. Gerade in der Religion und der Politik können vorschnelle Veränderungen verheerend sein. Radikalisierung und das Übergehen fundamentaler Werte stellen grosse Stolpersteine auf dem nebligen Pfad dar.
Ein Wunsch nach Beständigkeit
Ich bin jedoch der Meinung, dass diese berechtigte Vorsicht nicht der einzige Grund ist, warum Menschen lieber auf dem Weg stehen bleiben als ihm zu folgen. Stillstand verspricht den unbezahlbaren Wert von Konstanz. In einer Welt, die ständig im Wandel ist, schreit der Mensch nach Dingen, die sich nicht bei der kleinsten Berührung in Staub verwandeln. Dinge, an denen man sich festhalten kann. Eine Gewissheit, etwas zu haben, das immer sein wird. Es ist kein Wunder, dass sich dieser Wunsch oft in einem verbissenen Festhalten an Traditionen äussert.
«Wer schon mal im dichten Nebel einen Bergwanderweg beschritten hat, wird wissen, dass es keine gute Idee ist, diesem Pfad ohne Halt entlang zu rennen.»
Jonas Eggenberger
So könnte man die Rolle der Religion eben gerade darin sehen, eine solche Beständigkeit zu versprechen. Dies würde das Bestehen aller konservativen Kirchen, über die wir aufgrund ihrer für uns unverständlichen Regeln verächtlich den Kopf schütteln, zweifelsohne rechtfertigen. Ich sehe das nicht so. Stattdessen glaube ich, dass wir eine Konstante finden können, wenn wir unseren Blick auf das Ziel des Weges richten. Die Beständigkeit muss sich nicht in Stagnation äussern, sondern sie entsteht im Hinblick auf ein unveränderliches Ziel unseres nebligen Pfades; egal ob er gerade aufwärts oder abwärts führt, am Ende wird er genau die vorgesehene Höhe auf dem Gipfel des Berges erreichen.