Ein Vorwort: Sollte es uns schlecht gehen?
So schwer die aktuelle Frage des Philoso4en-Teams auch zu beantworten sein mag: Sie ist uns, zur Zeit der Flüchtlingskrise, näher denn je. Ein Kommentar
Krieg, Flucht, Angst, Verzweiflung. Ein kleiner syrischer Junge, tot am Strand. Er hatte, gemeinsam mit seiner Familie, dem Elend entkommen wollen. Und es leider nicht geschafft. So geht es vielen Menschen. Manche hingegen können flüchten, müssen immer wieder warten – vor neuen Grenzzäunen. Wieder andere schaffen es bis nach Österreich und ersticken dann qualvoll hinten in einem Kühllastwagen.
Wir erfahren den Schrecken, die Tragödien durch die Medien. Das Elend Syriens findet auch in unserer Wohnstube statt. Wie sollen wir mit dem Unglück dieser Welt umgehen – das ist die Frage für die aktuelle Rubrik Philoso4en.
Fühlst du dich schuldig?
Haben Sie sich schon mal die Schuld für etwas gegeben, das nicht eindeutig Ihre Schuld war? Es gibt sehr viele schlimme Zustände, für die aber niemand und zugleich alle verantwortlich gemacht werden können. So auch die Flüchtlingskrise. Wen würden Sie für diese beschuldigen? Diejenigen, die den Krieg «angezettelt» haben? Aber wer ist das? Es sind Umstände, Prägungen von Menschen, die solche Mechanismen in Gang bringen. Niemand trägt allein die Verantwortung. Wir dürfen, können, und wollen oft auch nicht beschuldigen – zugleich fühlen wir uns vielleicht, wenn wir jeden Abend die Tagesschau sehen, selber auch schuldig. Da sitze ich auf dem flauschig-weichen Sofa, trage warme Wollsocken und einen Kaschmirpullover, trinke schwarzen Tee, stopfe mich mit Schokokeksen voll – während in der grossen weiten Welt vor mir weinende oder tote Kinder gezeigt werden. Darf es mir denn materiell so gut gehen, während andere leiden? Nein – eigentlich sollten Eigentum und Reichtum weltweit gerecht verteilt sein. Ist das eine Utopie? Nein – es sollte ein Menschenrecht sein. Darf es mir, in diesem Wissen, psychisch gut gehen? Sollte ich nicht leiden, mich schuldig fühlen? Wie nahe darf ich das Unglück anderer Menschen an mich heranlassen? Die Fragen beantworte ich hier nicht. Darin versuchen sich die Philoso4enden und vielleicht Sie auch.
Elend im Wohnzimmer
Die Flüchtlingskrise in Osteuropa beschäftigt mich. Ich begegne ihr und den abertausenden Menschen auf der Flucht, sobald ich beim Frühstück die Zeitung aufschlage, wenn ich durch meinen Facebook-Newsfeed scrolle oder den Fernseher anschalte. Das Flüchtlingsdrama steht stellvertretend für das Elend dieser Welt, das hunderttausende Kilometer weit weg von mir existiert. Kriege, Naturkatastrophen, Hunger, Armut und Elend finden ihren Weg in mein Wohnzimmer. Wie soll ich damit umgehen? Soll ich all das Unglück die tausenden Kilometer weit weg lassen und mich hier darum kümmern, was ich heute Abend koche? Soll ich mir den Kopf zerbrechen über tausende, brutale Einzelschicksale, über Stacheldrahtzäune und Polizeiaufgebote? Dass Elend und Unglück Teil dieser Welt sind, dass dies ungerecht ist und dass die Medien davon berichten, kann ich nicht ändern. Das Dilemma ist, dass ich zwar von alldem erfahre, ihm jedoch machtlos gegenüberstehe. Das Wissen, nichts Bedeutendes bewirken zu können, macht mir das Unglück noch unerträglicher. Zwischen «mich kaputt machen, weil ich nichts ausrichten kann» und «Das ist alles weit weg und betrifft mich nicht» muss ich also einen erträglichen Spagat finden. Das ist die Kunst.
Eine Welt, wie ich sie will?
Es wird wohl von Mensch zu Mensch verschieden sein, wieviel Welt-Unglück jemand erträgt. Was mich betrifft, will ich der Welt in die Augen schauen, so wie sie ist. Der herzlosen Welt, die im Tsunami auf einen Streich 250‘000 Menschen verschlingt; der unerträglichen Bosheit, Dummheit und Gier bei den Mächtigen; meinem eigenen Ungenügen. Das alles erschüttert mich. Doch es gehört zu meiner Welt.
Warum wundert es mich? Ich weiss es ja. Was erwarte ich denn? Eine Welt, wie ich sie möchte? Wenn Unglück geschieht, wenn jemand mir böse kommt, wenn ich versage – das gehört zum System. Die Welt wird nicht anders. Nur meine Einstellung dazu kann sich ändern.
Es gibt auch das Sinnhafte: Güte, Verzeihen, Gewaltlosigkeit, Treue, Solidarität, Hingabe, Liebe, Erfahrung von Intuition, Geborgenheit und Sinn. Unzählige wunderbare Menschen leben es. Aus diesem Sinnhaften zu leben, zu wirken, manchmal gewaltlos zu kämpfen, kann auch im Unsinn sinnvoll sein.
Lächeln zum Beispiel
Fest steht: Entgehen können wir ihm nicht, diesem Unglück! Als Teil der Gesellschaft erfahren wir gezwungenermassen über unzählige Kanäle von den Geschehnissen, die «da draussen» vor sich gehen, egal ob direkt vor unserer Haustür oder auf der anderen Seite des Planeten. Jeder ist mit dem Unglück konfrontiert. Die Frage, wie nahe ich dieses an mich heranlassen sollte, könnte auch umformuliert werden: Wie viel Unglück darf ignoriert werden? Oder: Wie viel davon sollte ich ignorieren, damit ich eine positive Lebenshaltung beibehalten kann? Da das Unglück dieser Welt so riesig ist, ist es unmöglich, alles zu erfassen. Was ich ignorieren, beziehungsweise was ich an mich heranlassen will, liegt in meiner Hand. Mit einem einzigen Knopfdruck kann ich die Tagesschau ausschalten. Die Frage ist nun, was wir mit dem Wissen über das Unglück denn anstellen sollen, wenn wir uns entschieden haben, es nicht zu ignorieren. Verantwortung tragen ist das Stichwort. Wenn wir das Wissen über das Unglück dieser Welt in unserem Alltag positiv umwandeln zu einer bewussteren Lebensführung, kann jeder Einzelne zu ein bisschen mehr Glück beitragen. Beispielsweise nachhaltiger leben, weniger konsumieren und mehr lächeln.
Aussenwelten, Innenwelten
Die Aussenwelt ist nicht immer und unbedingt mit der Innenwelt verbunden. Ich gehe davon aus, dass alle Menschen die Fähigkeit in sich tragen, eine unabhängige Innenwelt zu kultivieren. Eine Innenwelt, die nur das Schöne, Leichte, Wunderbare des Lebens zulässt.
Es erscheint Ihnen vielleicht sonderbar, dass ich mit Schönem beginne, wo es doch um die Frage geht, wie nah ich das Leiden der Welt an mich heranlassen soll. Beim Nachdenken über diese Frage ist mir immer wieder eingefallen: Mir darf das Unglück so nah kommen, wie es den Leidenden nützlich ist. Die Begründung: Was nützt es den Leidenden, wenn ich selber daran zerbreche?
Leidende Menschen brauchen kraftvolle Menschen. Doch einer in diesem Zusammenhang stehenden wichtigen Frage wollte ich nachgehen: Was, wenn es mir nicht gelingt, die nötige Distanz zu wahren? Was könnte mir dann helfen? Das Trennen von Aussen- und Innenwelt, das Wissen, dass ich die Fähigkeit habe, jederzeit zu entscheiden, an einen schönen Ort in mir zurückzukehren, um Kraft zu sammeln, um mit dieser Kraft dem Leiden wieder mit einer gesunden Distanz zu begegnen, welche mich befähigt, Mitgefühl und Liebe in die Welt zu bringen, frei nach dem Gebot: Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst.
Meine pfarrei (marien) hat ein Projekt für ramdständige. Jeden Freitag können sie für 17fr50 2 Stunden arbeiten. Wer weiss, wie verschissen es ist, arm zu sein dem darf ich sagen: es ist! Spendet!