Haben Sie sich auch schon überlegt, warum im Schöpfungsbericht der Bibel das Licht am ersten Tag geschaffen wurde, die Lichtquellen Sonne, Mond und Sterne aber erst am vierten? Eine Erklärung ist: Dieser Schöpfungsbericht ist kein naturwissenschaftliches Dokument, sondern ein Gedicht. Und der Dichter ist am grossen Gegensatz interessiert, der die Welt beherrscht: Licht und Schatten, Gut und Böse. Beides nicht als physikalische Fakten, sondern als Grundkonflikt, der die Welt durchzieht.
Schattenseiten
Der Mensch sei ein vernunftbegabtes, nach logischen Gedanken handelndes Wesen. Das würde man gerne denken. Doch wir wissen es selber: So ganz vernünftig ist unser Handeln gar nicht. Wir erschrecken vor der Spinne, obwohl wir wissen, dass sie uns nichts antun kann. Wir wollen abnehmen, aber die Verführung der Schokolade ist stärker. Wir wollen offen sein für alle Menschen, gehen aber Unerwünschten aus dem Weg.
Natürlich wussten Dichter und Denker früherer Zeiten das schon lange. Schon der Apostel Paulus sagt von sich selber: «Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will». Sigmund Freud gehörte zu den ersten, die das Phänomen systematisch erforschten. Er schilderte, wie wir von Antrieben gesteuert werden, die uns gar nicht bewusst sind. So erzählt er von einem Redner, der sagte, es seien da letzthin Sachen zum Vorschwein gekommen. Das «w» hatte es aus seiner seelischen Dunkelkammer unbemerkt ans Licht geschafft. Die Fehlleistung hat ausgedrückt, was er dachte, aber nicht sagen wollte.
Psychologische Experimente bestätigen, dass wir nicht so fundamental gut sind, wie wir gerne sein möchten. Im sogenannten Milgram-Experiment hatten die ProbandInnen ein Gerät mit Knöpfen vor sich, mit denen sie andere Menschen mit elektrischen Stössen bestrafen konnten, wenn diese ihre Aufgabe nicht richtig lösten. Versuchsleiter standen ihnen bei und spornten sie zu grausamem Handeln an. Es zeigte sich in erschreckendem Ausmass, wozu die ProbandInnen fähig waren, wenn die Autoritätsperson sie dazu aufforderte.
Verschiedene andere Versuchsanlagen zeigen, dass es vor allem vier Dinge sind, die uns in die böse Rolle kippen können:
- Anonymität: Wenn wir uns in der Masse verstecken können, verschwinden die Hemmungen und wir sind zu Sachen fähig, deren wir uns nachher schämen.
- Gehorsam: Statt selber unser Handeln zu verantworten, richten wir uns nach der Autorität, die befiehlt. SS-Leute versuchten sich später vor Gericht damit zu rechtfertigen, man habe es ihnen ja befohlen.
- Pauschalurteile: Vorurteile und Feindbilder gegen bestimmte Menschengruppen lassen uns handeln, ohne dem Einzelfall gerecht zu werden.
- Bedrängende äussere Umstände: In grosser Not lassen wir uns leicht zu aggressivem Handeln verleiten.
Weil wir unsere Schattenseiten gerne im Hintergrund halten, schaffen sie es oft auf unbewussten Wegen ans Licht, zum Beispiel, wenn wir sie auf die lieben Mitmenschen projizieren. Ich bin ja gerne ein anständiger Mensch. Da stört es mich, wenn die andern meine kleinen Lügereien sehen. Und selber will ich es eigentlich auch nicht wissen. Und so projiziere ich meinen Schatten auf die andern und ärgere mich über ihre ständigen Lügereien. C.G. Jung gibt dazu einen guten Rat: Wenn dich etwas mehr als nötig aufregt, frag dich: Was hat das mit mir zu tun?
Yin und Yang, die verbundenen Gegensätze
In der chinesischen Philosophie bilden Yin und Yang ein Paar. Den Tag gibt es nicht ohne Nacht, zum Schatten gehört das Licht. Yin steht für die Nacht, das Weibliche, den Mond, Yang für den Tag, das Männliche, die Sonne. Auch wo viel Licht scheint, steht der kleine Punkt des Gegenpols. Alles auf der Welt enthält beides. Licht und Schatten gehören untrennbar zusammen.
Auch wir Menschen tragen Yin und Yang, die beiden Gegensätze, in uns. An manchen Tagen fühlen wir uns besser, an andern könnten wir bei Kleinigkeiten an die Decke gehen. In manchen Situationen tragen wir böse Gedanken in uns, und in der nächsten Sekunde sind wir dankbar für etwas, das uns gerade passiert ist.
Das Symbol von Yin und Yang findet sich verbreitet in vielen Bereichen: in der chinesischen Medizin, im Tai Chi, in der taoistischen Philosophie.
Aus dem Dunkeln ins Licht
Wir werden von allem Möglichen geprägt, von der Familie, von unseren Erziehungsberechtigten und Freunden, aber auch von unserer Gesellschaft. Als Kinder haben wir gezeigt, was wir lieben und was wir nicht mögen. Die Mimik eines Kindes zeigt, was es gerade fühlt. Es denkt nicht darüber nach, ob es gut oder schlecht ist, etwas zu sagen oder zu zeigen. Kinder leben im Hier und Jetzt, mit den guten und schlechten Seiten.
Doch wenn unsere Eltern falsch oder gar nicht auf unser Tun und Lassen reagieren, kann das im späteren Leben dazu führen, dass wir uns nie wirklich dazugehörig fühlen. Wir haben die Glaubenssätze, wie «Ich bin nicht wertvoll» oder «ich werde immer alleine sein», tief verankert, weil wir in unserer Kindheit gelernt haben, dass, egal was wir machen, es nicht genug ist, dass wir keine Aufmerksamkeit von unseren Eltern bekommen oder Gewalt erfahren, wenn wir tun, was die Eltern nicht gutheissen.
So bleiben wir oft lange im Dunkel unserer Glaubenssätze stecken. Dunkel, denn oft wissen wir gar nicht, dass wir belastende Glaubenssätze haben. Doch es ist wichtig, sie herauszufinden, denn nur, wenn wir sie kennen, können wir sie umwandeln in hilfreiche Sätze, wie zum Beispiel: «Ich bin wertvoll» oder «Ich muss nicht überall dazu gehören». Das kann uns helfen, liebevoller zu uns selber zu sein und so mit unserem Leben in Einklang zu stehen.
Dummerweise sind wir es selber, die uns in einem Strudel von schlechten Gedanken verankern. Das zu ändern, ist eine Herausforderung, denn die meisten Glaubenssätze tragen wir schon seit langer Zeit in uns. Nur wir selber können uns helfen. Natürlich kann es wertvoll sein, dass wir Personen in unserer Nähe haben, die uns sagen, dass wir, so wie wir sind, gut sind; doch um es wirklich innerlich zu spüren, müssen wir es uns selber sagen.
Kinder haben diese Probleme nicht. Sie wissen, dass sie was falsch machen in diesem Moment, und im nächsten lachen sie wieder. Sie stehen unbefangen im Leben, mit ihren Licht- und Schattenseiten.