Das im Titel des Referates von Professorin Pasqualina Perrig-Chiello erwähnte «verkannte, verdrängte und doch allgegenwärtige Alter» strömt bereits eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung im Rahmen der Ausstellung «Dialog mit der Zeit» in den Saal im Museum für Kommunikation in Bern. Auffallend ist: Drei Viertel der Zuhörenden sind Frauen reiferen Alters, auch ein paar Männer derselben Alterskategorie sind zu erspähen. Nur wenige Personen mittleren Alters vermögen den Altersdurchschnitt leicht zu korrigieren. Sonst ist das Alter unter sich.

Im Jungbrunnen und dennoch auf dem Abstellgleis
Der gesellschaftliche Diskurs bewegt sich häufig im Spannungsbogen zwischen «Altersphobie» und «Alterseuphorie». Der arg strapazierte Begriff «Überalterung» mahnt die Referentin, aus dem Vokabular zu streichen, ebenso gut könne man von einer «Unterjüngung» der Gesellschaft sprechen. Dezidiert fügt Perrig-Chiello an, dass die Gesellschaft über keine Altersgruppenkontingente verfüge.

Tatsache ist, dass die Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gestiegen ist. Überschätzt werde auch die Pflegebedürftigkeit der Alten, relativiert die Referentin. Fakt ist, dass die meisten unter 80-jährigen bei guter Gesundheit autonom in ihren eigenen vier Wänden leben. Fakt ist aber auch, dass die höchsten Pflegekosten in den zwei letzten Lebensjahren anfallen. – Und wer weiss schon, wie die heutige Jugend im Alter gesundheitlich aufgestellt sein wird.
Weg in eine alterlose Gesellschaft?
Bereits 2009 betonte der frühere SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi, die Alterung der Gesellschaft sei keine Bedrohung. Europa befinde sich auf dem Weg in eine alterslose Gesellschaft. Altern wird verdrängt – niemand will alt sein, einholen wird es uns dennoch. «Früher hatten Alte mehr zu sagen, wurden mehr respektiert – heute sind sie primär eine gesellschaftliche Last» lautet ein weitverbreitetes Vorurteil.
Doch so einfach ist die Sache nicht, wie die Referentin aufzeigt. Bereits bei den alten Griechen und Römern wurde der jugendlichen Schönheit gehuldigt. Sinnbild dafür sind diverse Darstellungen eines Jungbrunnens als Quelle für ewiges Leben. In früheren Zeiten wurde älteren Menschen Respekt gezollt, weil sie als Autoritäten wirkten – damals das Privileg der Männer. Die unrühmliche Praxis, gebrechliche, behinderte alte Menschen, aber auch Kinder zu verstossen oder auszusetzen, ist jedoch nicht das, was man sich unter respektvollem Umgang mit dem Alter vorstellt. Ist es zynisch, fragt die Referentin, dass die heutige Arbeitswelt ähnliche Ansätze pflegt? Ab Mitte 50 gelten ArbeitnehmerInnen als nicht mehr vermittelbar; ihre Kompetenz und ihre Leistungsfähigkeit sind in Frage gestellt.
Gelebter Generationenvertrag
In den Diskussionen um die Sicherheit der AHV-Finanzierung spielt verdeckt auch immer wieder die Erhaltung des sogenannten Generationenvertrages eine Rolle. Doch weder die Jungen noch die Alten garantieren den Generationenvertrag.
Es ist die mittlere, die erwerbstätige Generation, die hier ihren finanziellen Beitrag leistet. Hoch zu schätzen sind aber auch die immensen Leistungen, welche die Grosselterngeneration durch finanzielle Transferleistung für ihre Kinder und zeitliches und emotionales Engagement für ihre Enkelkinder erbringt, damit deren Eltern ihrer beruflichen Arbeit nachgehen können. Darüber hinaus bezahlen die Alten weiterhin Steuern und konsumieren. Dies alles ist auch Teil eines gelebten Generationenvertrages.
Biologisches Alter, fluide und kristalline Intelligenz
70 Jahre alt sein – und wie gesunde 50 wirken? Das realisieren vor allem die älteren Menschen selbst, wenn sie sich Bilder der eigenen Grosseltern ansehen. Der Einfluss der Gene auf ein gutes und gesundes Altern beschränkt sich allerdings auf 25 Prozent. Mit 65 Prozent Anteil sind vor allem Bildung, Geschlecht, Lebensstil, soziale Einbindung und finanzielle Lage bestimmend.

Dass unser Gehirn ein Leben lang plastisch bleibt, tönt wie der Sechser im Lotto. Massgebend sind dabei die fluide und kristalline Intelligenz (siehe Text ganz unten). Die fluide Intelligenz befähigt den Menschen, den Anforderungen des Alltags gerecht zu werden oder auch Informationen zu speichern, was eine wesentliche Grundlage von Lernen bildet. Diese Fähigkeiten nehmen im späten Erwachsenenalter tendenziell ab. Zur kristallinen Intelligenz gehören das Faktenwissen, das sich Menschen im Laufe ihres Lebens aneignen, Wortschatz und Bildung im Allgemeinen. Sie umfasst aber auch die soziale Kompetenz. Kristalline Intelligenz lässt sich bis ins hohe Alter steigern.
Das Paradox des Wohlbefindens
Deshalb betont die Referentin: Es gibt keine Ausrede, es lohnt mit Körper und Geist dran zu bleiben mit dem lebenslangen Lernen. Denn Wissensinhalte «veraltern» heute schnell. Frau Perrig-Chiello spricht in diesem Zusammenhang von der «Demokratisierung des Wissens». Es geht darum, auch älteren Menschen den Zugang zur Wissensbeschaffung über die sozialen Netzwerke zu ermöglichen, beziehungsweise sie dazu zu ermutigen, sich diese Fähigkeiten anzueignen. Eine gute Gelegenheit, Wissen von der jüngeren zur älteren Generation zu transferieren.
Auch um das Demenzrisiko zu verringern sind geistige, körperliche und psychosoziale Komponenten die beste Medizin. Ein reiches soziales Netz zu pflegen, Krafttraining oder Theaterspiel – Hauptsache, wir bleiben auch im Alter aktiv. Studien belegen, dass vielfach ab 80 die Beschwerdelast zunimmt. Deshalb nimmt die objektive Lebensqualität jenseits von 80 ab, das subjektive Wohlbefinden hingegen kann dennoch zunehmen. Hier spricht die Wissenschaft vom «Paradoxon des Wohlbefindens im Alter». Offenbar verfügt der alte Mensch zunehmend über die Fähigkeit, Beschwerden zu akzeptieren, sich den Umständen anzupassen.
Friedrich Nietzsche bringt es auf den Punkt:
Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.
Das Warum müssen wir ein Leben lang immer wieder neu definieren, Sinn finden im Warum. Zum Schluss ihres Referates weist Frau Perrig-Chiello auf Erkenntnisse bei Hundertjährigen hin. Für sie kommt es – unabhängig von Geschlecht, Alter und kultureller Zugehörigkeit – auf folgendes an:
- Aktivität, Stimulation, Ziele, Neugier, soziale Kontakte
- Selbstverantwortlichkeit, der Glaube an sich
- Im Einklang sein mit der eigenen Vergangenheit und seiner Umwelt
- Proaktivität
- Generativität / Selbsttranszendenz
- …….und Kreativität und Humor
HINTERGRUND:
Fluide und kristalline Intelligenz
Das Intelligenzmodell von Cattell unterscheidet zwei Komponenten der Intelligenz: Die fluide und die kristalline Intelligenz. In der Intelligenzforschung versteht man dabei unter fluider Intelligenz die Fähigkeit eines Menschen, schnell und abstrakt zu denken, wobei diese Fähigkeit tendenziell im späten Erwachsenenalter abnimmt. Fluide Intelligenz ist somit die eher allgemeine, weitgehend angeborene Leistungsfähigkeit und spiegelt die Fähigkeit wider, sich neuen Problemen und Situationen anzupassen, ohne dass es dazu umfangreicher früherer Lernerfahrungen bedarf. Fluide Intelligenz lässt Menschen also Probleme lösen, konzentrierter lernen und logisch denken, während die kristalline Intelligenz erworbenes Wissen und Fertigkeiten umfasst, etwa Vokabelwissen oder Fahrradfahren. Zur fluiden Intelligenz zählen unter anderem eine schnelle Auffassungsgabe und damit verbunden auch ein gutes Gedächtnis, denn mit deren Hilfe gelingt es manchen Kleinkindern, erstaunlich schnell sprechen zu lernen und sich auch ohne explizites Vokabellernen einen großen Wortschatz zu erwerben.
Quelle Hintergrund: http://lexikon.stangl.eu/3492/fluide-intelligenz/ | © Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik