Die interessanten Fragen, die wir uns stellen, reichen wir gern an unsere Leserschaft weiter: Wie geht das bei dir zu? Eines haben wir rasch gemerkt: Wir stehen da zwischen zwei Extremen, dem privaten Ich und der Welt, dem grossen Ganzen.
Früheste Erinnerungen
Was sind erste Momente in deinem Leben, die dir bewusst sind? Emotionen spielen da eine wichtige Rolle! Walter denkt an den Frosch, der ihm als Zweijährigem ins Auge gespritzt hat; und wie er dreijährig seinen Bruder beim Holzspalten verletzt hat, wovon diesem die Narbe geblieben ist. Besonders tief sitzt die Vorstellung aus dem Krieg – Walter ist 1939 geboren – vom bangen Warten auf den Vater: Kommt er je zurück? Simon denkt, seine ersten Eindrücke gingen auch ins dritte Lebensjahr zurück; von der dritten Klasse an glaubt er, eine «kontinuierliche Chronik» herstellen zu können. Heinz hält seine Erinnerungen überhaupt für bruchstückhaft. Aus der Schulzeit etliche Momente im Sport – der ihm das wichtigste Fach schien – und aus erster Verliebtheit; wobei er weniger das Mädchen als sich selbst erkennt.
Anita ist mit drei Schwestern aufgewachsen. Wie unterschiedlich sind unter ihnen die Erinnerungen!
Erste Bilder
Anita Bucher, 58
Wenn ich mein Gehirn nach meinen ersten Erinnerungen durchforste, tauchen zwei prägende Bilder auf.
Beim ersten war ich knapp 3-jährig: Ich sitze auf den Schultern meines Vaters und schaue staunend auf das viele in der Sonne glitzernde Weiss, während sich mein Vater mühsam einen Weg durch den hohen Schnee bahnt. Dass meine ältere Schwester und ich danach wie junge Hunde im weichen Pulver herumtollten, weiss ich vermutlich nur vom Hörensagen.
Beim zweiten war ich vierjährig: Ich laufe barfuss durch den Sand und sehe zum ersten Mal das Meer und seine «endlose» Weite. Ich wate durch die Wellen und bemerke erfreut, wieviel weicher der Grund ist als im gewohnten Heidsee. Vorfreude und Neugier auf unsere Ferientage in Rimini erfüllen mich. Jauchzend und lachend hüpfe ich mit meiner Schwester in den Wellen herum.
Falsche Erinnerungen
Simon Friedli, 26
Was ich von meiner frühen Kindheit noch weiss, ist sehr bruchstückhaft. Mit zunehmendem Alter habe ich aber herausgefunden, dass meine Erinnerung nicht nur lückenhaft, sondern teilweise sogar falsch ist. So habe ich eine Erinnerung, wie wir (meine Schwester, meine Eltern, Grosseltern und ich) mit unserem Boot auf dem Bielersee waren. Allerdings habe ich später begriffen, dass das so nicht passiert sein kann – das Boot war viel zu klein, als dass sechs Personen Platz gehabt hätten, und mein Grossvater hat es generell nie betreten. Auch habe ich ein Bild von unserem alten Auto vor Augen, aber auch dieses scheint nicht zu stimmen, da das Modell laut meinen Eltern ein ganz anderes war als das, das ich im Kopf habe. Offenbar habe ich den Gedanken, dass wir einmal ein anderes Auto hatten, und den Anblick eines unbekannten Autos in unserer Einfahrt vermischt.
Meine Erinnerung ist teilweise sogar falsch.
Simon Friedli
Dieses Phänomen ist nicht einzigartig und hat sogar einen Namen: der «Mandela-Effekt» – da viele Menschen offenbar die falsche Erinnerung haben oder hatten, der südafrikanische Politiker sei im Gefängnis verstorben und nie freigekommen.
Mit welchen Aspekten unseres späteren Lebens befassen wir uns noch? Mit schönen, ja, doch oft mit schwierigen. «Ich wünschte, ich hätte …» heißt die – unnütze – Losung. Was hätte ich anders machen sollen? Walter meint, er hätte früher anfangen sollen zu lernen, Sprachen etwa. Was alles hat es verhindert? Bedeutet solche Rückschau nicht: Ich hätte mich gern selber geändert? Simon denkt, falsche Entscheidungen seien damals einfach «logisch» gewesen.
Tägliche Besuche
Heinz Gfeller, 72
Erinnerungen, so scheint es, kommen, wie sie wollen, oft unerwartet. Vorstellungen von der Zukunft auch; allerdings weniger vielfältig, jedenfalls in meinem Alter. Doch zwei Erscheinungen nehme ich aus, eine vergangene, eine künftige. Die besuchen mich jeden Tag, meist ohne Anlass. Gewiss kann ich sie auch hervorrufen – was ich freilich nicht möchte.
Die Erinnerung liegt 28 Jahre zurück: Sie handelt vom Tod meiner damaligen Gattin, einem Absturz in den Bergen. Ich sehe keine Bilder davon, ich war nicht dabei; ich sehe mich selbst in jenen Tagen, den Unfall fantasiere ich allenfalls. Die Fragen bleiben stets die gleichen: Warum sie? Warum so jung? Ist das nicht ungerecht? Natürlich keine vertretbaren Antworten darauf.
Erinnerungen kommen, wie sie wollen.
Heinz Gfeller
Der Blick voraus richtet sich aufs Sterben. Klar, es kommt vor, dass ich über den Zeitpunkt und die Art spekuliere. Viele Jahre noch? Doch zutiefst beschäftigt mich die Frage nach dem Zustand danach. Wenn nichts mehr sein wird. Wie geht das zu, dass die Welt fortbesteht – nur ich bin nicht mehr drin? Was macht mein Bewusstsein? Keine Antworten, selbstverständlich.
Diese zwei begleiten mich. Ich habe gelernt, glaube ich, mit ihnen zu leben. Immerhin, darüber zu schreiben, mag heilsam sein.
Meine Zukunft gegen die der Welt
Unsere Diskussion über das, was erst vor uns liegt, fällt eher allgemein aus. Walter schlägt einen Bogen: In den 40er-, 50er-Jahren hätte er sich nie erträumt, ein so gutes Leben zu haben, wie er’s jetzt hat. Damals ging es auch allen gleich schlecht. Nun macht sich Walter über seine Zukunft wenig Gedanken. Auch wir andern sehen unsere Privilegien und dürfen hoffen.
Traurig ist, dass die Menschheit nichts gelernt hat, nichts lernt.
Walter Winkler
Aber was die Menschheit angeht! Da finden wir uns verhalten optimistisch bis extrem pessimistisch. Die Entwicklung verläuft schon jetzt so rasant; wird der gegenwärtige Fortschritt nicht in den Kollaps führen? Können wir das Geringste daran ändern? Auch Anita denkt zuerst an ihr eigenes Leben – dann das ihrer Tochter – und landet bei der Frage: Werden die Menschen mit ausserirdischem Leben in Kontakt kommen?
Nochmals zurück, in Walters Worten: Traurig ist, dass die Menschheit nichts gelernt hat, nichts lernt. Wir kauen einzeln an den Fehlern, die wir mal gemacht haben. Was tut die Menschheit?
Spaziergang auf dem Regenbogen
Telsche Keese, 84
Ich stelle mir das Leben als einen Zeitstrahl in Form eines Regenbogens vor. Darauf spaziere ich nun schon einige Zeit herum und bin seinem Berührungspunkt mit der Erde bedenklich nahegekommen.
Ich lebe ganz in der Gegenwart, bepacke die kleinen Momente mit vielen Aktivitäten, so dass ich manchmal die Balance verliere, dann zaudere ich und bewege mich nur zögernd weiter. Jeder Tag drängt mich vorwärts in die Zukunft, ob ich will oder nicht. Den «Touch down» des Regenbogens möchte ich in weiter Ferne sehen. Ich denke: «Es kommt, wie es kommt, Anfang und Ende gehören zusammen, das schaffe ich auch noch. Morgen geht gewiss die Sonne am Horizont wieder auf.»
Der jetzige Moment allein ist mir sicher, er ist mein zutiefst eigenes, freies Gestaltungsfeld, ich möchte ihn mir am liebsten vergolden. Warum? Ich schaue nicht gern zurück. Sobald ich traurige Kinder oder übermütige Heranwachsende sehe, tauchen Bilder aus liebloser, fremdbestimmter Zeit auf. Abschütteln kann ich sie nicht. Eine lange Wegstrecke verbrachte ich damit, zu einem selbständig denkenden Menschen zu werden. Erst auf dem Höhepunkt des Bogens sagte ich selbstbewusst: «Ich».
Schade nur, dass ich meine Erfahrungen unseren Kindern und Enkelkindern nicht weitergeben kann. Sie formen sich ihre Zeit und nutzen sie auf ihre Weise. Bei allem Tun bin ich kritisch und nicht überzeugt, dass wir Menschen aus Fehlern lernen wollen. Ich suche Trost in der Natur für alles Unbegreifliche, Unvernünftige und Kriegerische in der Welt. Eine warmherzige Umarmung im Hier und Jetzt bedeutet mir mehr als alle Versprechen der Welt.
Verloren oder frei – eine Gedankenspirale
Anni Kohler, 19
Ich möchte das Gymnasium bestehen und weiterhin, nebst allen Gedanken zur Zukunft, auch darauf vertrauen können, dass ich meinen Weg gehe. Ich möchte mit dem, was ich tue, etwas Gutes bewirken, jedoch möchte ich nicht diese Gesellschaft, die so von Geld und Macht dominiert ist, füttern. Ich habe so viele Dinge, die ich tun möchte, so viele Leben, die ich erleben möchte. Jedoch weiss ich weder, was ich studieren soll, ob ich überhaupt studieren möchte, noch weiss ich, in welches Land es mich nach dem Gymnasium ziehen wird. Ich bin sehr dankbar für all die Möglichkeiten, die sich mir bieten und die ich nutzen darf, denn ich weiss genau, dass dies vor wenigen Jahren noch nicht der Fall war und dass es auch heute noch ein Privileg ist, Möglichkeiten zu haben. Sagen wir es so: Ich schätze die Möglichkeiten, jedoch weiss ich nicht, ob ich in die Grenzen dieser Gesellschaft passen möchte, noch ob ich Kinder auf diese Welt setzen möchte. Aber wieso die Zukunft planen und immer etwas werden wollen, wenn man auch einfach sein kann.