Unser erstes Treffen fand letztes Jahr im Büro von Lesen und Schreiben Bern in einem Flügel des Berner Generationenhauses statt. Michael Aegerter (30), Botschafter für Grundkompetenzen, war bereit, Mischa und mir ein Interview zu geben. Leider war das Mikrofon nicht gleichermassen bereit, doch das merkten wir erst am Ende unseres Gesprächs. Dieses verlief nämlich ausnehmend gut. Mischa und ich waren gefesselt von Michaels Erzählungen. Uns gefiel seine ruhige Art, die Situation von Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten zu schildern, so dass wir das Aufnahmegerät völlig ausgeblendet hatten. Als dann nichts Brauchbares im Kasten war: Schock. Doch Michaels Zusage, es noch einmal mit uns zu versuchen, liess auf eine neuerliche gute Zeit zu Dritt hoffen.
Unser zweites Treffen im Berner Generationenhaus findet an einem sonnigen, aber eiskalten Aprilnachmittag statt. Die Menschen spielen Boule im Hof, sitzen auf Bänken entlang der besonnten Mauern, nippen an ihren Coffees to go. Michael kommt mir bereits entgegen, als ich in den Hof eintrete. Er komme immer gerne etwas zu früh zu Verabredungen, meint er, so habe er noch Zeit, sich umzusehen.
«Wie war dein Tag?»
Michaels Tag beginnt bereits um vier Uhr früh. Er braucht morgens immer genügend Zeit, um im Tag anzukommen. Rechtzeitig um sieben Uhr beginnt er seine Arbeit in einem Altersheim nahe Bern, wo er die Ausbildung zum Fachmann Betreuung macht. Da kümmert er sich gemeinsam mit KollegInnen um eine Wohngruppe von elf Personen mit geistiger oder psychischer Beeinträchtigung. Er hilft ihnen nach Bedarf bei der morgendlichen Pflege, frühstückt mit ihnen und begleitet sie anschliessend bei den Rüstarbeiten für die Heimküche. Nach dem Mittagessen spielt oder heimwerkelt er mit den Bewohnern, schreibt seine Rapporte ins Dokumentationssystem und schliesst dann seine Schicht gegen 16.00 Uhr ab. Die Fahrt auf dem Rennvelo zurück nach Hause bedeutet ihm viel: auslüften, bewegen, runterkommen, einen Moment für sich haben. Während des Tages muss er ständig präsent sein: gut zuhören, aufmerksam bleiben, damit im richtigen Moment die passende Hilfe geleistet werden kann. Er arbeite gerne mit Menschen. Er habe eine anspruchsvolle Aufgabe, werde geschätzt und jeder Tag bringe neue und wertvolle Erlebnisse.
Fachmann Betreuung ist bereits seine zweite Ausbildung. Er wird sie in etwa einem Jahr abschliessen. Eigentlich wollte Michael nach der Schule «irgend etwas mit Textilien» machen. T-Shirt drucken, etwas gestalten. So rutschte er in eine Lehre als Textiltechnologe rein. Zwar schloss er die Lehre ab, doch das war’s dann auch. Irgendwie sei er da «nie richtig angekommen». Bei seinem Einsatz als Zivi in einem Altersheim fand er dann zu seiner jetzigen Berufsausbildung. Das Zusammensein mit Menschen und Arbeiten für Menschen sei das, was ihm lieb sei. Er könne sich vorstellen, zu gegebener Zeit noch weitere Ausbildungen im sozialen Bereich in Angriff zu nehmen.
Alles tönt so einfach, so folgerichtig, wenn Michael erzählt. War da nicht noch die Geschichte von seinen Lese- und Schreibschwierigkeiten? Ist er nicht Botschafter von Lesen und Schreiben Bern und soll möglichst vielen Betroffenen seine Geschichte erzählen, damit diese auch den Mut aufbringen und Kurse besuchen? «Am Nachmittag schreibe ich Rapporte in unser Dokumentationssystem», hörten wir doch eben. Wir stutzen: Wie geht das zusammen? Wie macht er das?
Erst fit fürs Leben mit korrekter Rechtschreibung?
Der Stellenwert der Rechtschreibung sei einfach enorm und das sei in seinen Augen fragwürdig, sagt Michael schlicht. Schreibe er einen Bericht, steche immer als Erstes seine mangelhafte Orthografie ins Auge. Erst danach zähle, ob der Inhalt stimmt, ob er sich menschlich richtig eingebracht oder eine Situation korrekt eingeschätzt habe. Ein Lehrer hätte ihn auf die Fehler angesprochen, ihn mit Informationen zu Kursen Grundkompetenzen für Erwachsene versorgt. Der Ausbildner reagierte eigentlich vorbildlich: Nicht schonen und ein Auge zudrücken, sondern da genau hinschauen, wo es klemmt. Michael aber hat das erst einmal genervt: immer diese Rechtschreibung. Dann aber ist er doch hingegangen, in den Grundkurs Lesen und Schreiben für Erwachsene, ganze drei Jahre lang oder noch etwas länger. Einmal in der Woche nach dem Arbeiten jeweils noch zwei Doppelstunden lang Lesen und Schreiben lernen. Und das nach abgeschlossenen neun Schuljahren. Das muss man erst einmal stemmen können und wollen!
Botschafter mit persönlicher Botschaft
Während der Schulzeit beobachten Lehrpersonen sorgfältig und ermöglichen eine Unterstützung, etwa mit Logopädie. Danach muss sich jedeR selbst organisieren. Das heisst, die Schwierigkeiten, die im Alltag durch die Lese- und Schreibschwäche entstehen, möglichst nicht verdrängen. Michael stellt klar: Ausreden suchen und ausgeklügelte Strategien zur Umschiffung der Probleme erarbeiten, braucht mindestens so viel Energie wie das Defizit gezielt aufarbeiten und bringt die Betroffenen dennoch nicht weiter.
Nach all den Jahren weiss Michael nun, wo seine Schwächen liegen, wie er sie angehen kann und dass er das auch tun muss. Wenn er sich jeweils mit dem Rechtschreibprogramm hilft und dieses bei umfangreicheren Texten trotz seiner Korrekturen immer noch Fehler anzeigt, so wendet er sich heute an eine Vertrauensperson. Er bittet sie, den Bericht vor der Abgabe durchzulesen und die fehlerhaften Stellen zu erklären. Er hat auch gelernt, gezielt Unterstützung zu verlangen, denn meist hätten die Leute «keine Ahnung, wie helfen». Sogar bei Vorstellungsgesprächen werde er auf seine Lese- und Schreibschwäche hinweisen, nimmt sich Michael vor. Denn so schaffe er Transparenz und sehe an der Reaktion des Gegenübers, ob er an einem Arbeitsort «ankomme» oder ob er gleich in eine entsprechende Schublade gesteckt werde.
Er schloss sich der Berner Botschaftergruppe des Dachverbands Lesen und Schreiben an, denn er möchte, dass andere aus seiner Geschichte lernen können. BotschafterInnen sind Betroffene, die in Schulen, bei Berufsgruppen oder im Auftrag von ArbeitgeberInnen über ihre Erfahrungen in den Kursen Grundkompetenzen für Erwachsene berichten. Sie machen anderen Betroffenen und deren Umfeld Mut, sich mit der Thematik zu befassen und sensibilisieren die Öffentlichkeit. Dafür erhalten sie auch ein gezieltes Medientraining. Ausserdem prüfen sie Texte auf Verständlichkeit für Menschen, die Schwierigkeiten mit der Schriftsprache haben.
Michaels Tag beginnt mit Tee
Michael sitzt vollkommen entspannt am sonnigen Tisch im Innenhof des Berner Generationenhauses. So ist das eben, «es längt süsch nid, für dört wo nig häre wott im Läbe». Und was ist mit Freizeit, mit Hobbys, mit Unbeschwertheit. Wie tankt er Kraft für all dies?
Der Botschafter trinkt Tee. Auch dies mit Bedacht, mit Hingabe und hohem Anspruch. Er zelebriert jeweils morgens in der Früh und abends vor dem Schlafen sein Stündchen mit einem besonderen Gaiwan, in dem er seinen Pu-erh ansetzt und dann für sich alleine geniesst. Michael kommt ins Erzählen und erklärt uns sein persönliches Teeritual. Dazu esse er sein Müesli und schaue auch mal einen Film auf Youtube. Dabei kann es von Anime über Gaming bis hin zu Mode so manches sein – denn Michael ist vielseitig interessiert. Dabei scheint vor allem der asiatische Kulturraum eine gewisse Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Seine Reisen nach Tokio bleiben für ihn unvergesslich. Nicht etwa, dass er nur nach Wahrzeichen in der der Mega-City Ausschau gehalten hätte, er machte aus dem Abenteuer einen Shoppingtrip. «Dort gibt es Artikel von bestimmten internationalen Marken, die speziell und nur für den japanischen Markt produziert werden», erklärt er.
«Es längt süsch nid, für dört wo nig häre wott im Läbe.»
Michael Aegerter (30)
Doch für Michael muss es nicht immer weit weg gehen. Gerne verbringt er seine Freizeit in der eigenen Heimat. So legt er manchmal weite oder weniger weite Strecken mit seinem Rennvelo zurück und geniesst diese Möglichkeit, um vom stressigen Arbeitsalltag abzuschalten. Er ist kreativ tätig, indem er malt oder er begibt sich in fantastische Welten beim Lesen von Sci-Fi, Fantasy oder Klassikern. Er spielt gern das Gesellschaftsspiel «Pen and Paper», schlüpft dabei in eine Rolle und kontrolliert den Spielverlauf zusammen mit den MitspielerInnen. Sogar einen One Shot, eine Kurzgeschichte, hat er dafür schon geschrieben, er, der mit Lese- und Schreibschwäche kämpft!
Es wird langsam kühl, wir blasen in die Hände und denken an Aufbruch. Rasch zum Aufwärmen in den Gang des Generationenhauses treten und schon geht das Gespräch weiter.
«Was steht nach der Pandemie an, Michael?»
Hier muss er nicht lange nachdenken: Mal wieder Ferien und verreisen, ins Ausland, am liebsten wieder einmal nach Japan, nach Tokio, um genau zu sein. Dann nach dem Lehrabschluss nächstes Jahr der Aufbruch in die Selbständigkeit. Einfach mal für sich selbst sorgen können, arbeiten, sich einbringen…, er lächelt fein und wir sind sicher: Das wird Michael packen und zwar mit Bravour.
4 Fragen an Michael
Wofür würdest du mitten in der Nacht aufstehen?
Für guten Tee
Welche wichtige Person/Persönlichkeit möchtest du einmal treffen?
Michael Jordan
Wieso machst du bei UND mit?
Damit andere Menschen aus meiner Geschichte lernen können
Was bringt dich auf die Palme?
Ungerechtigkeit