Ich bin auf dem Weg zu Vreni und Hansruedi in Hünibach am Thunersee. Die beiden sind von 2005 bis 2012 mit ihrem Schiff, der «Early Bird», durch Europa gesegelt. Vom Bus aus sehe ich den See. Der Himmel ist etwas bedeckt und auch das Wasser etwas trüb. Die Türkistöne, in denen der See an einem sonnigeren Tag erstrahlt, kann ich trotzdem erahnen. Nach dem Essen zeigen mir Vreni und Hansruedi Bilder und Videos ihrer Reise. Auf einem Ausschnitt erneuert Vreni die Fugen der «Early Bird» mit einem Spachtel von Betty Bossi. In einem anderen spazieren die beiden friedlich durch die grüne und ruhige schwedische Landschaft. Auch Aufnahmen vom Segeln sind dabei. Vreni steht, dick eingemummelt in eine gelbe Segeljacke, am Steuer und lächelt zufrieden.
Ihre ersten Segelerfahrungen sammelten Vreni und Hansruedi unabhängig voneinander. Vreni wuchs am Thunersee auf. Mit 20 konnte sie sich einen «Laser», ein kleines Segelboot, kaufen. Ihre Ferien verbrachte sie während mehrerer Jahre auf dem Meer, mit unterschiedlichen Schiffen und immer mit anderen Crews. Hansruedi fuhr als Jugendlicher mit dem selbst gebauten Paddelboot seines Bruders auf dem Bodensee. Richtig zu segeln begann er erst mit 35, dafür segelte er dann aber gleich auf Hochsee.
Was fasziniert euch am meisten beim Segeln?
Vreni: Die Abhängigkeit von Wind und Wetter und die immer wieder neuen Orte, die wir erkunden können.
Hansruedi: Es ist sicher die Fortbewegung mit den Naturkräften und auch die tägliche Herausforderung, Wind und Wetter einzuschätzen. Hinzu kommt, dass Segeln auch sehr umweltfreundlich ist, sofern der Antrieb von der Windkraft und nicht vom Motor kommt.
Zum Schiffskauf entschieden sie sich im Sommer 2004. Sie wollten intensiver segeln und träumten von einer Weltumsegelung. Ihre grosse Reise startete im April 2005, nur ein halbes Jahr nach dem Kauf der «Early Bird».
War es von Anfang an euer Traum, so lange auf See zu sein?
Vreni: Ja, eigentlich schon. Aber den Traum wirklich zu leben ist schon speziell. Im ersten Sommer dachte ich manchmal: Was habe ich gemacht? Ich hatte ein Haus, ich hatte einen super Job – alles an den Nagel gehängt. Wir haben unser ganzes Hab und Gut extrem redimensioniert, alles musste in einem 20-Fuss-Container Platz finden.
Ist euch der Abschied schwergefallen?
Vreni: Eigentlich nicht. Uns wurde erst auf dem Schiff bewusst, dass wir für unser Abenteuer unsere guten Jobs aufgegeben hatten, in die wir so nicht mehr reinkommen würden.
Hansruedi: Ja, für mich war es ähnlich. Ich hatte vom Luftverkehr etwas genug und überlegte damals: Was mache ich danach? Etwas ganz anderes? Kann ich das? Oder kann ich auch frühzeitig in Pension gehen? Und ich bin zum Schluss gekommen, dass ich mit der Erwerbsarbeit aufhören kann.
Und so ging es los. Während acht Jahren verbrachten sie immer neun Monate auf See und nutzten die restlichen drei Monate, um Arbeiten an der «Early Bird» zu verrichten. Sie starteten in Zypern, wo sie die «Early Bird» gekauft hatten. Ihr Ziel war, das Mittelmeer zu durchsegeln. Bald stand fest, dass sie ihr erstes Winterlager in Port Napoleon, einem Hafen an der Rhonemündung in Südfrankreich, verbringen würden. Im zweiten Jahr umsegelten sie Gibraltar und shipperten hoch bis nach Holland. Anschliessend wurde die Ostsee ihr neues Ziel. Dort blieben sie für fünf Jahre, weil es ihnen so gut gefiel. Beide lernten Schwedisch.
Vreni: Auf dem Schiff gab es zwei typische Tage: Entweder segelten wir, oder wir machten einen Landausflug. Beim Segeln standen wir relativ früh auf, beobachteten das Wetter und machten das Schiff segelklar. Es musste alles in der Kabine verstaut sein, damit nichts rumfliegen konnte. Bei Landausflügen nahmen wir es etwas gemütlicher. Wenn wir noch waschen oder einkaufen wollten, mussten wir uns natürlich am neuen Ort zuerst orientieren.
Nachts suchten sie sich entweder einen Platz im Hafen oder einen Ankerplatz. Beim Ankern schliefen sie weniger gut, da sie bei schlechtem Wetter immer bereit sein mussten, augenblicklich zu handeln, falls der Anker reissen sollte. Manche Nächte wachte Hansruedi draussen. Es gab aber auch Nächte, in denen sie durchsegelten. Dabei wechselten sie sich im 2-Stunden-Rhythmus mit dem Schlafen ab.
Was habt ihr unterwegs am meisten vermisst?
Vreni: Der Kontakt mit Freunden hat uns schon gefehlt, aber wir machten auch sehr nette Zufallsbekanntschaften. Und wir lebten plötzlich einen ganz anderen Rhythmus, bei dem sich die Prioritäten verlagerten. Wichtig wurde, wie das Wetter wird, wo du dein Essen findest und was es zu besichtigen gibt. Eigentlich ein Ferienfeeling, das zum Alltag wird.
Am Anfang verspürten sie auch Unsicherheit, weil sie so vieles aufgegeben hatten, und weil sie wussten, dass irgendwann die Frage kommen würde: Was kommt danach?
Vreni: Mich hat das nur zeitweise verunsichert. Wenn der Tag spannend war, habe ich mir keine Sorgen gemacht. Sorgen kamen höchstens in der Nacht, wenn ich Nachtwache schob.
Hansruedi: Ich habe den Moment gelebt und nicht gross an die Vergangenheit oder auch an das, was ich in zwei Tagen machen werde, gedacht. Ich unternahm einfach das, was ich gerne mache.
Während der acht Jahre, in denen Vreni und Hansruedi unterwegs waren, fand ein grosser digitaler Wandel statt. Das Smartphone kam in dieser Zeit auf den Markt. Die beiden führten einen Blog und hatten mit Familie und Freunden über verschiedene Medien Kontakt.
Vreni: Wir haben den digitalen Wandel massiv miterlebt. In der Türkei hatten wir manchmal einen Tag lang keinen Handy-Empfang. Anfangs gingen wir immer in Internetcafés. Heute haben wir Hotspot auf dem Schiff. Wir navigierten mit Karten und hatten erst im letzten Jahr einen Plotter (elektronische Seekarte).
Auf ihren Segeltouren machten Vreni und Hansruedi auch Bekanntschaften, die ihnen noch heute in Erinnerung geblieben sind.
Irgendeinmal kam der Zeitpunkt, an dem die beiden die «Early Bird» verkaufen wollten. Zunächst nur, um sie gegen ein kürzeres Schiff einzutauschen. Als dann aber Vrenis Mutter starb, mussten sie sich zwischen Vrenis Elternhaus und dem Langzeitsegeln entscheiden.
Wenn sie zu Hause sind, kümmern sie sich viel um den Garten und Vreni ist mit ihrem Engagement beim UND sehr beschäftigt. Auf dem Thunersee haben sie immer noch ein kleines Segelboot – «gegen die Entzugserscheinungen». Vreni vermisst das Segeln nicht so sehr, Hansruedi aber meint: «Ich würde schon gerne wieder einmal lange Sommerferien auf dem Schiff verbringen.» Die Reiselust ist den beiden nicht abhandengekommen. Sie segeln jetzt zwar nicht mehr auf den Weltmeeren. Dafür sind sie nun viel mit dem Velo oder der Bahn unterwegs.
Ich bin beeindruckt von dem Mut, der Ausdauer und der Spontaneität der beiden – alles Dinge, ohne die ihre Reise nicht möglich gewesen wäre. Ich hoffe, dass auch ich bald erste Segelerfahrungen sammeln kann. Denn nun bin auch ich fasziniert von dieser Art der Fortbewegung, die von Wind und Wetter abhängig ist.