Sie konzentrieren sich nicht. Sie organisieren sich schlecht. Sie halten nicht still. Sie stören. So nahm ich als Lehrer Jugendliche wahr, mit denen ich Mühe hatte. Und nicht wusste, wie sie «anzupacken».
Auffällig, aber nicht zu sehr
Laura (18) erhielt im Alter von 17 Jahren die Diagnose ADHS, obwohl die Symptome bereits viel früher, schon in ihrer Kindheit, auftraten. Laura erinnert sich, wie sie in der Schule Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren und zu organisieren. Wichtige Infoblätter gingen verloren, Hausaufgaben wurden nicht erledigt und Prüfungen nicht vorbereitet. Vor allem hatte sie Schwierigkeiten, sich mit ihren Lehrern und Mitschülern zurechtzufinden. «Ich war eigentlich immer schlecht gelaunt, stritt häufig mit FreundInnen und meinen Eltern.» Lauras Verhalten zwar war auffällig, aber wohl im Rahmen.
«Ich war als Kind etwas pummelig, und irgendwie wurde das von meinen MitschülerInnen immer wieder mit Faulheit in Verbindung gebracht: Du bist fett und faul.»
Laura
«Ich war notenmässig eine gute Schülerin, einfach nicht so engagiert in der Schule. Ich habe das Minimum gemacht, um durchzukommen.» Aufgrund dieser fehlenden Motivation wurde Laura von ihren LehrerInnen – und auch von ihren MitschülerInnen – irgendwann einfach als «faul» abgestempelt. «Ich war als Kind etwas pummelig, und irgendwie wurde das von meinen MitschülerInnen immer wieder mit Faulheit in Verbindung gebracht: Du bist fett und faul.»
Das verletzte Laura natürlich, sie versuchte sich zu verteidigen, denn sie war und ist kein fauler Mensch. Aber ihre Abwehrhaltung machte die Situation meistens nur noch schlimmer, also hörte sie irgendwann auf, sich zu verteidigen.
Laura fühlte sich missverstanden, niedergeschlagen und einfach überfordert, sie begann die Schule zu schwänzen: «Ich wurde faul genannt, also wurde ich faul.»
«Es ist nicht das Kind, das sich ändern sollte, sondern das Umfeld.»
Lavinia Duda
Als Laura in die dritte Oberstufe kam, wurde es noch schwieriger: «Ich konnte plötzlich morgens nicht mehr aufstehen und kaum noch mit Menschen sprechen, ohne frustriert zu werden. Ich stritt oft mit meinen Eltern, konnte die LehrerInnen und meine FreundInnen kaum ertragen. Ich fühlte mich einfach schlecht – und hatte auch Schuldgefühle wegen meines Verhaltens, aber ich konnte es einfach nicht ändern. Und dann erhielt ich die Diagnose: Depression.»
Die Diagnose hätte eigentlich eine Erleichterung sein sollen für Laura. Die Depression wurde medikamentös behandelt – alles hätte gut sein können. Doch irgendwie passte die Diagnose nicht. Sie erklärte nicht, warum Laura als Kind solche Mühe hatte Aufgaben zu erledigen, die ihre MitschülerInnen problemlos bewältigten. Als Kind hatte sie wahrscheinlich noch keine Depression, oder?
Es war ihre Mutter, die darauf bestand, dass weitere Untersuchungen durchgeführt wurden. Und dann kam endlich die Diagnose, die sich für Laura richtig anfühlte: AD(H)S. Laura beschäftigt sich oft damit, herauszufinden, warum diese Diagnose bei ihr so spät gekommen ist, während gefühlt jeder dritte Junge innerhalb von ein paar Wochen mit ADHS diagnostiziert wird. Es gibt viel mehr Jungen, die mit ADHS diagnostiziert werden. Bei Erwachsenen besteht dieser Geschlechterunterschied jedoch nicht mehr.
Sie war manchmal auffällig, aber eben nicht zu sehr, so dass ihre Schwierigkeiten, wie bei vielen anderen Mädchen, übersehen wurden. Ihre Geschichte hat ein positives Ende. Sie wird behandelt, geht zur Therapie und beginnt im Sommer ihr zweites Lehrjahr. Doch Laura bleibt geprägt von den vielen Jahren, in denen ihr das Gefühl gegeben wurde – von ihr selbst und anderen – «falsch zu sein».
Warum die Diagnose wichtig ist
Lavinia Duda (34), Psychiaterin, hat sich im Spital-Ambulatorium oft mit ADHS-Menschen befasst – und zwar mit 17- bis 65-Jährigen. Sie kamen zur Abklärung von psychischen Problemen, Beziehungs-Krisen, Überforderung, von Sucht; oft aber ergab sich aus ihrer Biografie: «ADHS ist dahinter». Es kommt vor, dass ein Kind diese Diagnose erhält – und sich nachträglich erweist, dass auch Eltern sie schon gehabt hätten.
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung), viel besprochen heute, darüber kann man sich ausgiebig informieren. Hier geht es um persönliche Ansichten zu diesem Thema.
Der alte Lehrer hörte noch von POS (Psycho-organischer Störung), die man als eine minimale Schädigung des Hirns erachtete. Heute lautet die Diagnose ADHS, sofern Symptome vor dem 12. Lebensjahr aufgetreten sind. In der Grundschule werden diese jeweils deutlich sichtbar. Bei Mädchen eher in der «verklemmten», bei Knaben häufig in der überaktiven Form, dem «Zappelphilipp». Wobei man sich hütet, wie Lavinia Duda betont, strikt zwischen den «Neurotypischen» – den angepasst Normalen – und den «Neurodivergenten» zu trennen; vielmehr gilt die Idee von einem Spektrum, in dem alle Menschen ihren Platz finden. Entsprechend fallen auch Behandlungen vielfältig aus. Es ist wichtig, früh damit einsetzen zu können. Jugendliche, später, reagieren oft frustriert und aggressiv, sie fühlen sich missverstanden. Mädchen ihrerseits zeigen eher ein depressives, überangepasstes Verhalten. So oder so sind die Muster ihrer Persönlichkeit dann schon geformt. Allerdings – Lavinia Duda zitiert eine Ausbildnerin: «Es ist nicht das Kind, das sich ändern sollte, sondern das Umfeld.»
An eine Diagnose schliesst sich ein langer Prozess an. Lavinia Duda sieht ihre PatientInnen einmal monatlich. Sie bezieht Angehörige, auch LehrerInnen ein. Immer wieder überprüft sie, was nützt. Denn es gibt mannigfache Schienen: «Stimulanzien» (Medikamente), Psychotherapie, aber auch Musik-, Bewegungs-Therapie; ADHS-Coaching durch eine Spezialistin, individuell oder mit der Familie; Selbsthilfe-Gruppen für Erwachsene. Erfolgreich erscheint die kognitive Verhaltenstherapie: Aus den Fragen «Worunter leidet jemand – und warum?» wird abgeleitet, welches Verhalten geändert, umtrainiert werden soll.
Ein Beispiel: Jemand tut sich schwer mit der Pünktlichkeit, mit dem Aufstehen etwa. Was könnte die Person selber ändern? Früher zu Bett? Aber «ich kann nicht vor Mitternacht einschlafen». Gäbe es Massnahmen, die, ohne andere zu stören, helfen würden: Wäre es möglich, statt um acht Uhr erst um neun anzutreten?
Für die Person gilt es zu begreifen: «Ich bin anders; aber ich muss mir auch Mühe geben.» Bringen die Diagnosen wirklich Erleichterung? Ja, meint Lavinia Duda. Einerseits für die Betroffenen, die etwa feststellen: «Ich bin nicht dumm, nicht faul.» Und positiv empfinden, dass sie Bescheid wissen, sich einer Gruppe zugehörig fühlen, sich auch äussern können. Andrerseits für das Umfeld, das Bedürfnisse erkennt und Fehler vermeiden wird: Menschen mit ADHS brauchen Verständnis, Aufmerksamkeit, Raum. Sie «erziehen» – also zwingen – zu wollen, klappt nicht; sie ziehen sich zurück, meiden gar die Schule. Ja, die Schule: etwas Organisiertes, Strukturiertes – dem sind nicht alle gewachsen. Auch wenn sie «eigentlich intelligent» sind.
ADHS – wie Autismus, der ebenfalls im grossen Spektrum liegt – wirkt wie eine Mode-Diagnose. Wenn man sich seriös damit befasst, sollte das helfen, falsche Urteile und Stigmatisierungen zu vermindern. Denn nach wie vor werden Betroffene negativ eingeschätzt: chaotisch halt, unzuverlässig, unfähig. Ganze Lebensläufe scheitern manchmal daran. Schlechtere Ausbildung, schlechtere Jobs, am Ende gar – wieder – Verluste, Süchte, ja Kriminalität. Was nicht zu erwarten ist, räumt Lavinia Duda ein, ist, dass man alle Welt dazu bringt, tolerant zu sein oder fixe Vorstellungen, Vorurteile aufzugeben. Die Gesellschaft völlig ändern? Kaum möglich.
Verspätete Diagnose
Markus Kestenholz (35) ist bereit, darüber zu reden. Das mag ihm, aber auch anderen helfen. Nach schweren Depressionen und Burn-outs hat er mit 31 Jahren die Diagnose ADHS bekommen. Sein Leben wäre anders verlaufen, wäre das früher geschehen, ist er überzeugt.
Von der Grundschule an stiess er an – Noten meist 6, aber «ein unmöglicher Charakter». Oft sah er nicht ein, dass man ihn einfache Dinge zu machen zwang; umgekehrt hätte er mehr ausgelastet sein, sein «special need» (Bedürfnis) berücksichtigt werden sollen. Häufig geriet er in Konflikte; seine Emotionen waren unstet, «volatil».
Seine Hochbegabung erwies sich später für ein Studium als ungünstig. Er sah sich ausserstande, zäh an Aufgaben, auch uninteressanten, zu sitzen. Als er danach im Journalismus arbeitete, erlebte er weitere Achterbahnfahrten: Er verlor Stellen, aber erhielt sie auch wieder; seine Arbeit war wohl «im Schnitt gut», doch hielt er die verlangten Leistungen nicht durch.
Heute hat Markus Kestenholz Klarheit über seine Diagnose, seine «Beschaffenheit». Als er damals – sehr spät – davon erfuhr, «fiel ein Berg an schlechtem Gewissen weg. Das Hirn lässt sich nicht mit Willenskraft zwingen», erkannte er. Sein Hirn, dem Dopamin fehlt, sucht verzweifelt nach Anregungen; die stellen sich ihm überall in den Weg, lenken die Aufmerksamkeit auf sich.
Markus Kestenholz hat Mühe, Ordnung zu schaffen, zu priorisieren; er empfindet eine «Zeitblindheit». Sich acht Stunden auf etwas zu fokussieren, namentlich vor dem Bildschirm, ist ihm unmöglich – allerdings reichen ihm vielleicht zwei Stunden für die geforderte Arbeit. Oft kam es ihm vor, er funktioniere «mit angezogener Handbremse». Als er mit über 30 Jahren Ritalin erhielt, geriet er in ein neues Dilemma: Es ging nun zu leicht. Es fühlte sich an «wie Kutschenfahren mit 16 Pferden, jedes mit seinem eigenen Willen».
«Mit Ritalin fühlte es sich an wie Kutschenfahren mit 16 Pferden, jedes mit seinem eigenen Willen.»
Markus Kestenholz
Markus Kestenholz hat gelernt, mit seiner Beschaffenheit umzugehen. Er musste entdecken: «Mach, was du kannst.» Dass man seinen Charakter kritisierte, war eindeutig falsch. Die verfehlten moralischen Urteile richten nur Schaden an. Wer hingegen informiert ist, kann – schon als Kind – Strategien aufbauen, wohl auch «sein Hirn überlisten». Medikamente, er redet von «Aufputschmitteln», seien hilfreich, aber auch schädlich. Hilfreich, wenn man die Kontrolle darüber hat, wenn ein Coaching sie begleitet. Beim Arbeiten gilt es, zu dem, was eigentlich langweilt, neue Perspektiven zu finden. Was ebenfalls befreiend wirkt: zu erzählen – und von andern zu hören.
Markus Kestenholz möchte unbedingt auch Vorteile seiner Verfassung aufzeigen. Er spricht von «absolut himmlischen Zuständen», von «Hyperfokus», wenn sein Interesse voll getroffen ist, wenn er sich in etwas verbeisst und perfekte Resultate erzielt.
Für die menschliche Evolution mag ADHS als Nachteil erscheinen, meint er; aber vielleicht sei es eine notwendige Mutation. Diese Idee kann dazu beitragen, die Beeinträchtigung zu akzeptieren.
Schon im Kindergarten?
Tanja (28) ist Kindergärtnerin in Bern und hat eine Heilpädagogik-Ausbildung vor. Sie kennt das Thema ADHS: einerseits, weil diese Diagnose bei Eltern und Lehrpersonen bekannt ja fast Mode ist; andererseits, weil sie 15 quicklebendige Kinder betreut, die einschlägige Symptome zeigen können. Kinder sind in diesem Alter doch häufig zappelig, impulsiv, müssen sich bewegen und Emotionen rauslassen. Deshalb gleich auf ADHS tippen? Da bleibt Tanja vorsichtig. Das Spektrum an Symptomen, die in Frage kommen, ist sehr breit.
Nimmt’s zu? Was auffälliges Verhalten angeht, ja, deutlich. Doch daran sind diverse Faktoren schuld: die Reize, die uns überfluten; die Art, wie Eltern erziehen (oder nicht); auch das aktuelle Schulsystem mit seiner Inklusion – dem Bemühen, alle Kinder, auch «schwierige», gemeinsam zu betreuen. Tanja stellt dazu fest, dass Grenzen erreicht werden, wo’s «niemandem gut tut». Für die Lehrpersonen ist es kräftezehrend; sie haben nicht genug Ressourcen, um den heterogenen Klassen gerecht zu werden; sie sind die meiste Zeit allein.
Nun steht die Diagnose ADHS im Raum. Auch Eltern sprechen davon; sie empfinden vielleicht Angst davor, die Diagnose käme. Im Kindergarten-Alter wird diese allerdings kaum ausgesprochen. Selten soll abgeklärt werden. Zwei Jahre später sieht’s anders aus: Die Schule stellt ihre Anforderungen, mehr Konzentration, weniger Freiheiten. ADHS kann wirklich das Lernen behindern. Auch wenn ADHS-Kinder oft leistungsstark sind.
Wenn ein Kind in der Schule Unterstützung erhalten soll, braucht es dazu eine Diagnose und die Erziehungsberatung. Heute werden viele Schulkinder zur Abklärung angemeldet. Tanja kennt Verfahren, mit denen sie den Hyperaktiven und Unkonzentrierten beikommt. Wichtig ist, die Bewegung der Kinder stets einzubauen. Bei schlechtem Wetter dennoch hinausgehen. Bei nachlassendem Zuhören auch mal abbrechen. Wenn ein Kind beim Singen quakt, das Lied mit allen quaken. Im Kindergarten gibt es durchaus Elemente, die aufs Lernen vorbereiten (zählen, Namen schreiben). Noch fehlt den Kindern aber oft das Interesse und die Aufmerksamkeit. Öfters sollten ihre Emotionen geregelt werden.
Der Übergang zur Schule ist heute fliessend – in unterschiedlichen Modellen. Eines davon erlaubt es, eine zweijährige, also langsamere Einschulung vorzunehmen. Das ist gut – so wie es, laut Tanja, richtig ist, dem ADHS-Thema nicht zu viel Gewicht zu geben.