
Tragen wir Jahrhunderte historischer Traumatisierungen und Leiden früherer Generationen in uns?
Zwei Frauen haben die Biografien ihrer Vorfahren aufgedeckt und auf dieser Reise in die Vergangenheit erfahren, wie ihre Ahnen gelebt, welche Spuren diese hinterlassen haben, welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können und warum gewisse Hindernisse wiederkehren.
Was hat uns dazu bewogen, Ahnenforschung zu betreiben?
Cornelia: Aus eigener Erfahrung sowie durch jahrelange Praxis mit KlientInnen ist mir heute klar, dass die Ursache vieler Leiden nicht nur in unserer eigenen Lebensgeschichte zu finden ist. Sie verbirgt sich in der Geschichte unserer Eltern, Grosseltern und oft sogar Urgrosseltern. Wissenschaftliche Studien beweisen mittlerweile, dass Traumata sowie Konditionierungen weitervererbt werden.
Gaby: Die Herkunftsgeschichte meiner Mutter sowie deren Eltern beschäftigt mich schon länger. Sie geht zurück zu meinen beiden Urgrossvätern mütterlicherseits. Beide im Diemtigtal geboren, reisten sie beide Ende des 19. Jahrhunderts aus ihrem Heimattal weg nach Preussen. Sie waren Wirtschaftsflüchtlinge.

Beide Urgrossväter arbeiteten auf Rittergütern in der Landwirtschaft als «Schweizer», «Oberschweizer» oder «Melker», wie diese Berufe damals genannt wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Auslandschweizerfamilie – meine Grosseltern, meine Mutter und ihre beiden Brüder – aus dem Osten Deutschlands zurück in die Schweiz, wo sie sich eine neue Existenz aufbauten.
Welche Entdeckungen haben wir gemacht?
Gaby: Meine Grosseltern haben beide Weltkriege erlebt, meine Mutter den zweiten. Sie kamen mittellos in der Schweiz an. Meiner Mutter blieb eine Berufsausbildung wegen des Krieges verwehrt und sie konnte in der Schweiz keine Lehre absolvieren. Als sie in die Schweiz kam, war sie 20-jährig und musste Geld verdienen. Sie arbeitete zuerst in der Gastronomie, als Familienfrau lange Jahre in Heimarbeit und später, bis zu ihrem Tod, als Reinigungskraft. Auch meine Grossmutter arbeitete als Reinigungskraft, weit über ihr Pensionsalter hinaus. Es war für mich selbstverständlich, nachdem der jüngere Sohn in den Kindergarten eingetreten war, wieder in meinem Beruf zu arbeiten. Trotz damaliger Rezession und vielen Bewerbungsabsagen ist mir der Berufseinstieg gelungen. Etwas vom «Nichtaufgeben, Weitermachen» lebt wohl auch in mir. In Sören Kierkegaards Zitat vermag ich mich wiederzufinden.
Cornelia: Meine Vorfahren lebten wohl über Jahrhunderte im Emmental wie es in Gotthelfs Büchern beschrieben ist. Als der Roman »Geist und Geld» – ein einzigartiger Einblick in die Gedankenwelt der Emmentaler – beendet war, hatte sich die Heimat meiner Ahnen im Zuge der Industrialisierung stark verändert. Meine Ururgrossväter empfanden, wie die meisten Bauern des Emmentals, diese Veränderung als Bedrohung. Der eine Zweig wanderte ins Saanenland ins Bergbauerntum aus und der andere war, in seinem Drang nach Gerechtigkeit und menschenwürdigerem Dasein, offen für einen Erweckungsprediger namens Ernst Mann, der für die Methodisten arbeitete. Diese Evangelisationslehre schwappte aus der neuen Welt in die Alte Welt über.

Was dürfen wir aus diesen Erkenntnissen lernen?
Gaby: Meine Mutter und meine Grossmutter waren starke Frauen. Aufgewachsen mit Entbehrungen nahmen sie ihr Leben mutig in die Hand mit allen Unwägbarkeiten, die es ihnen immer wieder beschert hatte. Daraus erwuchs für mich eine Zuversicht, die mich in meinem Leben in schwierigen Situationen mutig vorwärtsschauen und auf meine eigene Kraft vertrauen liess.
Cornelia: Mein Grossvater wurde als «Stündeler» belächelt und mein Vater und seine Geschwister waren Dauerzielscheiben für Spott und Prügel in der Schule. Persönlich lernte ich daraus, den Fragen unserer Zeit ernsthaft auf den Grund zu gehen und aus der Tiefe zu schöpfen, ohne das Grosse, das uns führt, einem bestimmten Gott zuzuweisen und darüber zu streiten, welcher jetzt der Richtige sei. Gewiss ist es heute leichter zu Überzeugungen zu stehen, die nicht von der Allgemeinheit geteilt werden.
Hat sich dadurch in unserem Alltagsbefinden, in unseren Beziehungen, etwas verändert?
Gaby: Einen eingeschlagenen Weg zu verlassen, beschert neue Einsichten, ermöglicht neue Begegnungen, lässt einen neue Seiten an sich entdecken und andere hinterfragen. Ich habe mich verändert, ich fühle mich freier, ich bin bei mir angekommen.
Cornelia: Es hat mich entspannt, zu sehen, dass ich gewisse Eigenheiten und auch einen bestimmten Leidensdruck von meinen Vorfahren übernommen habe. Ein bewusster Umgang mit schwierigen Gefühlen lassen mich die Gegenwart und meine Beziehungen in der Familie und am Arbeitsplatz leichter erleben. Vermutlich ist mein Leben innerlich freier als das meiner Vorfahren.