Nicht debattieren oder gar streiten wie in der TV-Arena wollen wir in unserer Gesprächsgruppe. Wir wollen versuchen, uns in eine Person hineinzuversetzen, die anders denkt als wir. Wir wollen dabei nicht nur verstehen, was sie sagt, sondern auch, was sie sagen will. Wir
wollen erfahren, aus welchen weltanschaulichen, politischen und emotionalen Voraussetzungen die Personen
ihre Überzeugungen schöpfen.
«Ich konnte mit meinem Vater über vieles reden, nur nicht über die Armee. Alle Argumente griffen nicht, weil die emotionale Grundlage verschieden war.»
Werner Kaiser
Elias (21) startet den Versuch. Er ist überzeugt vom bedingungslosen Grundeinkommen. Ihm stellen wir die ersten Fragen. Zuerst eher auf der Sachebene: Worum geht es beim Grundeinkommen? Wer steckt dahinter? Wie soll das finanziert werden? Dann aber auch auf der persönlichen Ebene: Warum ist dir das so wichtig? Hat das mit deiner politischen Einstellung zu tun? Anfangs war das gar nicht einfach. Immer wieder rutschte ein «aber» in die Fragen. Oder es werden Fragen gestellt, die verkappte Gegenmeinungen enthalten. Doch das Verständnis für das, was Elias will, wächst zusehends.
Weitere Experimente folgen. Soll das Parlament zur Hälfte durchs Los gewählt werden? Die Idee irritiert, so dass das Bedürfnis zu widersprechen oft grösser ist als die Absicht, die Hintergründe zu erforschen.
Gerade wenn Emotionen hochkommen, verfällt man gerne wieder ins Verteidigen der eigenen Meinung. Wir bemerken bald: Wir sind es einfach nicht gewohnt, einen solchen Dialog zu führen.
Was haben wir daraus gelernt?
Am Schluss werden alle eingeladen, über ihre Erfahrungen mit diesem Experiment zu sprechen. Es zeigt sich ein beachtlicher Lernerfolg:
Simon (28) ist sich bewusst, dass er im Bereich der Politik eine pointierte Meinung hat und diese auch gerne vertritt. Das Experiment hat ihm gezeigt, dass es weiterführend sein kann, sich einmal einem anderen Menschen zu öffnen und dessen Perspektive zu verstehen.
Telsche (85) ist überzeugt: Wenn sie wirklich verstehen will, was jemand sagt, wie er oder sie denkt, welche Gründe, Erfahrungen zu seiner oder ihrer Sichtweise geführt haben, dann muss sie ihre Perspektive verändern. Sie muss versuchen, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Dabei können Emotionen den Dialog sehr stören. Sie ist dann nicht mehr beim anderen und kommt weg von der Sachebene.
Hanna (77) merkt, wie schwierig es ist, sich auf das Fragen zu begrenzen, ohne seinen eigenen Kommentar zu geben. Je engagierter sie im Thema ist, umso schwieriger wird es.
«Wir wollen versuchen, uns in eine Person hineinzuversetzen, die anders denkt als wir.»
Werner Kaiser
Elias findet es bereichernd, sich vom Egoismus zu lösen und sich dem Gegenüber zu widmen. Oft haben wir unsere Lebensweise im Blick und beharren auf unserer Meinung. Vielleicht halten wir uns sogar für schlauer als alle anderen. Dies findet er einen Trugschluss, denn man könne so viel lernen von anderen Menschen und deren Lebenserfahrung.
Werner (84) kennt das Problem schon von früher. Er konnte mit seinem Vater über vieles reden, nur nicht über die Armee. Der Vater hatte in der Kriegszeit Dienst geleistet und war überzeugt, die Armee hätte die Schweiz vor Hitler gerettet. Er selbst stand den Friedensorganisationen nahe. Alle Argumente griffen nicht, weil die emotionale Grundlage verschieden war.
Wie wäre es, wenn …?
Wir können das, was wir erlebt haben, weiterspinnen. Wie wäre es, wenn wir Menschen ganz grundsätzlich die Fähigkeit entwickeln würden, einander zu verstehen? Wenn wir Polarisierungen abbauen und interessiertes Fragen an dessen Stelle setzen würden? In der Familie, im Beruf, in der Politik? Wir hätten wohl ein friedlicheres Leben und sogar weniger psychische
Probleme.
Oder stellen wir uns gar vor, Putin, Selenskyj, Biden, Xi Jinping und alle weiteren mächtigen Leute würden an einem Tisch sitzen, sich für die Meinungen und Bedürfnisse der anderen interessieren und sich mit wohlwollenden Fragen einander zuwenden. Vielleicht kämen
statt Wirtschaftsblockaden und Kriegen lebensdienliche Lösungen zustande.
Dieser Austausch war inspiriert vom Projekt «Lasst uns reden» von Pro Futuris. Auf den nächsten zwei
Seiten berichtet Noah Werder (23) mehr über dieses Projekt.