
Eine gute Stunde haben wir mit Abdikadir und Hans-Urs Fähndrich in deren Wohnung in Luzern zusammengesessen. Was wir hier wiedergeben, sind ein paar Einblicke aus dem, was der junge Mann – bald 19-jährig – uns berichten will und kann: ein Einzelschicksal in Fragmenten, gewiss keine profunde Darstellung der Flüchtlings-, der Migrationsfragen.
Abdikadir Hussein Duale – hinten stehen sein Vaters und sein Grossvaters Name; Kadiro sei sein «Spitzname» – stammt aus einer Kleinstadt im Norden von Somalia. Er hat drei Schwestern und vier Brüder; als der Jüngste lag er seiner Mutter besonders am Herzen. Als ihn jedoch ein älterer Cousin bewog, das Bürgerkriegsland zu verlassen, verriet er ihr dies nicht; sie hätte es nicht akzeptiert. Er war 14 Jahre alt; das nötige Geld kam wohl aus der Familie. Zwei Jahre lang habe die Mutter dann nach ihm geforscht.
«Kadiros Weg führte zuerst übers Meer nach Jemen,
wo ihm sein Cousin ‹verloren ging›.»
Kadiros Weg führte zuerst übers Meer nach Jemen, wo ihm sein Cousin «verloren ging»; dann übers Rote Meer in den Sudan. Diese Überfahrt in einem maroden Holzboot dauerte fünf Tage, ohne Toilette, ohne Essen, nur mit Wasser – mit Petrol versetzt, soll es den Hunger dämpfen. Drei arabische «Captains» liessen die Passagiere unter Deck im Ungewissen.
Danach ging’s in die Sahara, in acht Autos, die von Leuten aus dem Tschad geführt wurden: einen Monat Wüste. Ausser einem – vielleicht einem Lösegeld-Opfer – wurden die Flüchtlinge nach Libyen geschleust. «Polizei», welche auch immer, sperrte sie dort in ein Gefängnis, wo Kadiro ein Jahr und acht Monate bleiben sollte. Mit vielen Menschen aus afrikanischen Ländern, ohne Pässe, war er in einer riesigen Halle einquartiert. Zweimal täglich gab’s zu essen. Sechs Personen drängten sich um einen Teller; es galt, sich gegen Erwachsene zu behaupten; es herrschten strenge Hierarchien, oft wurde gekämpft, geschlagen. Als besonders Junger kam Kadiro zu einer Art Privileg: Er wusch draussen die Teller.
Als das Lager von einer fremden Gruppe angegriffen wurde – auch in Libyen herrschte Bürgerkrieg –, flohen die Insassen. Kadiro scheint es nochmals gut getroffen zu haben: Ein «Polizist» – eine Art Gönner – ermöglichte ihm, die Fahrt Richtung Italien anzutreten. Auf dem Schlauchboot sassen 60 Menschen aus seiner Heimat, aus Eritrea, Sudan, Nigeria – Frauen, Kinder.
Endziel Schweiz
Kadiro landete in Catania auf Sizilien; er wollte in die Schweiz. Er konnte kein Italienisch; doch er fand einen Somalier, der ihn zunächst begleitete und ihm die weitere Zugfahrt besorgte. Kadiro hatte kein Geld; als blinder Passagier musste er halt Kontrollen vermeiden, sagt er verschmitzt.
«Die Schweiz: Aufnahme-Zentren, vom Amt für Migration zugeteilte Plätze. Drei Monate in Zürich; dann Luzern, ein Jahr im ‹Grosshof› Littau.»
Die Schweiz: Aufnahme-Zentren, vom Amt für Migration zugeteilte Plätze. Drei Monate in Zürich; dann Luzern, ein Jahr im «Grosshof» Littau. Das Einleben kam in Gang. Kadiro hatte daheim acht Jahre Primarschule absolvieren können, trotz der Kriegswirren. In Libyen habe er viel Arabisch gelernt. Nun ist Deutsch eines seiner Hauptanliegen. In der Integrationsklasse ging’s von Null aus zum Sprachniveau A2. Um die dritte Stufe (B1) bemüht er sich jetzt im Brückenangebot. Kadiro sei fleissig und neugierig, sagt Hans-Urs Fähndrich. Tatsächlich vermag er vieles recht verständlich zu formulieren; nur komplexere Aussagen entgehen ihm. Unser Gespräch kommt gut voran, weil er offen und spontan wirkt, bei aller Zurückhaltung.
Und diese Wohnsituation? Kadiro ist volljährig geworden – jedenfalls nach unseren Begriffen; zuhause wäre er weiterhin an die Familie gebunden, vielleicht bis zu einer Heirat. So kann er aber selbständiger logieren, und dies ermöglicht ihm die Wohngemeinschaft, in die Hans-Urs und Johanna ihn aufgenommen haben. Da hat er eine neue Familie, die sich möglicherweise noch um einen Asylanten erweitern wird. Er bekommt Hilfe beim Lernen, aber er setzt sich auch ein, kocht oder arbeitet im Garten. Hans-Urs und Kadiro scheinen sich wirklich gut zu verstehen, auch über den Generationenunterschied hinweg.
Multikulturelle Mannschaften
Und er hat weitere Kontakte: Weil er gern Fussball spielt, ist er zu einem Verein in Emmenbrücke sowie zu einem Team in der Alternativen Liga gestossen. Diese Mannschaften sind ausgesprochen multikulturell. Unter Kollegen aus der Heimat trifft man sich etwa am Bahnhof. Zudem besitzt Kadiro ein «Gleis 7»-Abonnement, mit dem er recht weit in derSchweiz herumkommt – über Nacht, denn vielerorts bieten ihm Kollegen eine Schlafgelegenheit an.
Was wird werden? Was Kadiro beruflich anpacken will, weiss er noch nicht. Zuerst die Sprache! Dann vielleicht Krankenpflege? Nächstes Jahr wird er Schnupperlehren mitmachen können. Kadiro hat einen Ausweis F: Er ist «vorläufig aufgenommen». Das bedeutet noch keine Sicherheit – die Herkunftsländer werden von Schweizer Behörden periodisch neu eingeschätzt. Sein Alter und die Tatsache, dass er in Ausbildung ist, verbessern wohl seine Aussichten. Kadiro hat jetzt auch ein Handy und damit, per WhatsApp, Kontakt zu seiner Mutter. Doch nach Somalia möchte er höchstens zu Besuch zurückkehren. Und ob er die Flucht anderen empfehlen würde? Nein!