Christine und Michael sitzen eng beieinander und halten Händchen. Sie hören dem anderen jeweils zu, unterbrechen aber auch um zu widersprechen oder ergänzen: «Schatzi, du hesch no vergässe z säge, dass…» Ganz offen sprechen sie – zwei Menschen mit Behinderung – mit uns über ihr Kennenlernen, ihre Beziehung, ihr erstes Mal.
Ja, auch Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen haben Sex. Und das ist ihr gutes Recht. «Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Menschen mit Behinderung sollen so gut leben wie Menschen ohne Behinderung.» Diese Botschaft stammt von der Kantonsregierung Sankt Gallen. Sie ist in sogenannt «Einfacher oder Leichter Sprache» geschrieben, welche in Deutschland und Österreich – zunehmend auch in der Schweiz – verwendet wird, wenn beispielsweise Amtssprache leichter verständlich werden soll.
Wie steht es also mit ihrem Grundrecht auf Nähe, Zärtlichkeit, sexuelle Erfüllung?
Laut einer neuen Studie des Bundesamtes für Gesundheit verändert sich das sexuelle Verhalten der Schweizer Bevölkerung. So erfreut sich sogenannter Gelegenheits-Sex – also ohne Beziehungsansprüche und meist mit wechselnden PartnerInnen – offenbar zunehmender Beliebtheit. Menschen, für die es wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung schwierig ist, Liebe und Sexualität in einer Partnerschaft zu finden, haben meist auch weniger Möglichkeiten zu einer Gelegenheits-Begegnung. Obwohl es mittlerweile im Internet auch Dating-Plattformen für Menschen mit einer Behinderung gibt. Wie steht es also mit ihrem Grundrecht auf Nähe, Zärtlichkeit, sexuelle Erfüllung?
Das Recht auf Sexualität
In der Schweiz hat jeder Mensch die Freiheit, sein Leben im Rahmen der Gesetze selbst zu gestalten. Dieser Grundsatz ist mit dem Recht auf die Persönliche Freiheit in der Schweizerischen Bundesverfassung fest verankert und garantiert mit dem Recht auf Selbstbestimmung auch indirekt eines auf Sexualität. Vom Recht auf Sex sind auch Menschen mit Behinderungen nicht ausgeschlossen. Wie alle anderen machen auch sie Gebrauch davon.
Vom Recht auf Sex sind auch Menschen mit Behinderungen nicht ausgeschlossen.
Stefan Kühnis, kantonaler Geschäftsleiter von Pro Infirmis Glarus, hält fest, dass auch Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung selber entscheiden können, welchen Stellenwert Sex in ihrem Leben haben soll und welche Form der Sexualität ihnen entspricht: «Es kann nicht sein, dass Institutionen oder Fachleute vorschreiben, was sie im Bezug auf Sexualität dulden».
Mit dem «BerührerInnen-Projekt» hatte Pro Infirmis vor einigen Jahren für Aufsehen gesorgt. Dabei sollten speziell ausgebildete «BerührerInnen» behinderten Menschen Dienstleistungen anbieten, welche Zärtlichkeiten, erotische Massagen und andere erotische Erlebnisse, nicht aber Geschlechtsverkehr umfassten. Nach Spendeneinbrüchen von bis zu 400‘000 Franken stellte Pro Infirmis das Projekt ein. Andere Organisationen haben das Thema aufgegriffen und weitergeführt.
Menschen mit einer Behinderung brauchen keinen spezialisierten oder gar sozialpädagogisch betreuten Sex.
Sex ist trotz seiner Omnipräsenz in den Medien laut Stefan Kühnis nicht nur im Bezug auf körperliche und geistige Behinderung weiterhin ein Tabuthema. Aber Organisationen, welche für Menschen mit einer Behinderung arbeiten, seien da besonders in der Klemme. Die Moral spiele auch bei der Generierung von Spendengeldern eine Rolle, meint er. Deshalb geraten Informationen über Fachleute und Institutionen, welche auf Wunsch von behinderten Menschen ein aktives Sexleben bewusst unterstützen, nur selten an die Öffentlichkeit.
«Menschen mit einer Behinderung brauchen keinen spezialisierten oder gar sozialpädagogisch betreuten Sex». Es sei aber wichtig, dass die Möglichkeit zu Sex und der Zugang zu Assistenz, wie beispielsweise Hilfe beim Transport oder beim Duschen, offen stünden. «Fachleute sollen die Rahmenbedingungen sicherstellen, das heisst zum Beispiel, den Zugang zu seriösen Prostituierten oder Callboys ermöglichen oder dafür sorgen, dass bei Beeinträchtigungen Assistenz angefordert werden kann». Was genau in diesem Rahmen dann vor sich geht, damit sollten sich Fachleute gar nicht befassen müssen.
«Liebe auf den ersten Blick»
«Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine Freundin haben werde. Dann ist Christine gekommen.» Mit diesen Worten beginnt Michael Kummer (29) das Gespräch. Neben ihm sitzt Christine Meyer (35). Die beiden sind ein ganz normales Paar, das sich wie jedes andere liebt, ab und zu streitet, sich wieder versöhnt – und das Sex hat.
Ihre Liebe zueinander zeigen sie offen und ohne Einschränkungen, in ihrer Lebensführung aber sind sie nicht uneingeschränkt. Christine hat ein Down Syndrom und Michael leidet an einer Muskelerkrankung, welche auch ihn geistig leicht einschränkt. Die beiden sind seit einem Jahr verlobt und verbringen viel Zeit miteinander, obwohl sie nicht ständig zusammen leben. Christine wohnt in einem eigenen Studio, nahe bei ihren Eltern und einer Schwester, wo Michael sie oft besucht. Sie arbeiten zwar beide in der Stiftung für integriertes Leben und Arbeiten SILEA in Thun, aber in verschiedenen Bereichen.
«Wir gehen gemeinsam einkaufen und auswärts essen, wir spielen gerne zusammen und schauen Filme.» Michael mag Western, Christine sieht lieber Liebesfilme. Während Christine im Schwimmen eine Medaille nach der anderen abräumt, tritt der leidenschaftliche Gitarrist Michi mit der Band seines Vaters «The Lazy Crazy» auf, von der es auch mehrere CDs gibt. Bei einem von Michis Konzerten haben sie sich vor acht Jahren kennengelernt. «Es war Liebe auf den ersten Blick», meint Christine. Es habe aber etwas gedauert, bis sie zusammengekommen seien, da sie noch einen Freund hatte. Die ArbeitskollegInnen hätten sie zu Beginn etwas gefoppt, sonst seien sie aber nie schräg angeschaut worden.
Sie streiten sich selten und wenn, dann versöhnen sie sich schnell wieder, wie uns Michael erzählt «Nach einem Streit fühlte ich mich überhaupt nicht wohl und konnte nicht einschlafen. Sie nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss, wir entschuldigten uns und dann war alles wieder gut.» Zusammensein bedeutet für sie, dass sie füreinander da sind, liebevoll miteinander umgehen, einander treu sind und eben auch Sexualität. Ebenso wie verantwortungsvolle Verhütung, denn beide sind sich bewusst, dass es für sie «viel zu kompliziert» wäre, Kinder zu haben. Christine ist glücklich darüber, dass sie ein Patenkind hat.
Tabus brechen
Michael und Christine leben ihre Sexualität dank der Unterstützung ihres Umfeldes in einer liebevollen und stabilen Beziehung aus. Anderen Menschen mit Behinderung bleibt das verwehrt und sie müssen darauf vertrauen, dass ihnen der Zugang zu Sex und gegebenenfalls zu Assistenz anderweitig – zum Beispiel durch Fachleute oder Institutionen – ermöglicht wird. Erschwert wird ihre Situation zudem dadurch, dass die Öffentlichkeit – trotz des scheinbar zunehmend lockeren Umgangs mit Sexualität im Allgemeinen – Sex im Zusammenhang mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung immer noch weitgehend tabuisiert.
Barrierefreiheit benötigt nicht bloss bauliche Massnahmen, sondern auch Veränderung im Denken. Auf die Situation behinderter Menschen und ihre Bedürfnisse, nicht bloss sexuelle, muss immer wieder aufmerksam gemacht werden, zum Beispiel durch Plakatkampagnen, Filme oder soziale Experimente wie das Projekt 5 min von insieme. In diesem Sinn gilt es, Tabus zu brechen.
Passend zum Thema
Spielfilm «The Sessions» mit Helen Hunt, basierend auf einer wahren Geschichte (USA 2012)
DVDs «Behinderte Liebe» des Medienprojekts Wuppertal, 3 Filme von und über junge Behinderte zum Thema Liebe und Sexualität.
Bildungsfilm «Behinderte Liebe – verhinderte Lust».
«No more Tabus – Sex und Behinderung» TV-Sendung.
Web-Film «5min» (nicht zum Thema Sex), Kurzbegegnungen von Menschen von der Strasse mit behinderten Menschen.