In diese Ausstellung kommst du nicht ohne Hindernisse hinein; gewisse der Corona geschuldet, andere der Anlage: Die Plätze sind beschränkt, je fünf Sessel vor den vier Doppel-Bildschirmen, auf denen die Gesprächs-Tandems zu sehen sind. Acht Gespräche hat Videofilmer Mats Staub aufgenommen, an unterschiedlichen Orten in Europa und Afrika, in drei Sprachen (notfalls untertitelt). Je zwei Menschen haben sich bereit gefunden, unter der Vorgabe «Todesfälle und Geburten in meinem Leben» ihre Erlebnisse, ihre Gefühle offenzulegen – und wie!
Du siehst die zwei Personen nebeneinander, dir gegenüber. Unglaubwürdig, da doch der Dialog offensichtlich stattgefunden hat? Daran gewöhnst du dich rasch, so eindrücklich wirken all die, oft stummen, Regungen der beiden, ihr Lachen, ihr Weinen auch. Denn beides mischt sich in die packenden Lebensberichte, die häufig Anlass zu Trauer bieten, aber ebenso zeigen, wie man diese überwindet. Machen nur Sterben und Gebären das Leben aus? fragst du wohl – doch die über 50minütigen Erzählungen sind so reich, dass dies keine Rolle spielt.
«Du sitzest da und nimmst das auf. Schreckliches, Tröstliches, Hoffnungsvolles – insgesamt: das volle Leben.»
Heinz Gfeller
Eher fragt sich, wie lange du als ZuschauerIn aushältst – manchmal auch wegen der Intensität der Emotionen. Die «Ausstellung» (Anführungszeichen sind ja angebracht) lässt sich kaum vollständig erfassen. Mit einigen Splittern aus den Beiträgen, die ich verfolgt habe, sei ein Eindruck vermittelt:
Die indischstämmige Sharon aus Südafrika stellt ihre traditionsverhaftete Mutter dar, welche ihr nach einer Totgeburt vorwarf, das Kind getötet zu haben – Schuldgefühle blieben bis heute. Ihr Gegenüber, die schwarze Hlengiwe, erinnert sich, dass ihr als Kind verboten wurde, beim Tod einer Verwandten zu weinen; wie sie aber einmal stattdessen in Lachen ausbrach, befreit.
In Basel berichtet Basso, aus italienischer Familie, wie er eine Nacht neben einem totgeborenen Geschwister verbrachte, ständig beobachtend: «Vielleicht lebt es doch.» Ahmed aus Eritrea erzählt von den vielen Geschwistern, die auch nach ihm zur Welt kamen, und wie die ganze Umgebung, Verwandte und Nachbarn, jeweils daran teilnahm und Gaben mitbrachte.
Die 90-jährige Erika aus Frankfurt schildert die Kinderlähmung, die sie damals überstand, auch wenn sie fünf Jahre lang nicht gehen konnte. Die noch ältere Charlotte ihrerseits spricht von ersten Sterbenden, die sie sah: hingerichtete Soldaten zu Ende des Weltkriegs. Und seufzt auch mal: «Meine Güte – dieses Thema!» Erika wiederum zu einem besonders schweren Erlebnis: «Ich hab’ das noch keinem Menschen erzählt.»
Du sitzest da und nimmst das auf. Schreckliches, Tröstliches, Hoffnungsvolles – insgesamt: das volle Leben.
Reich an Lebenserfahrung
Die zwei Frauen aus England, denen ich mich gegenübersetze, arbeiten in der Pflege. Beide erzählen von den Umständen der eigenen Geburt, wie sie die Geburten ihrer Geschwister erlebt haben und von den Geburten ihrer eigenen Kinder. Nach einigen Minuten habe ich das Gefühl, diese Menschen schon seit langer Zeit zu kennen. Sie lassen uns Zuhörer so nahe an sich herankommen, dass ich gar nicht aufstehen mag, um noch andere Stationen aufzusuchen. Die eine Frau erzählt davon, wie verliebt sie während der Schwangerschaft war – in ihr zukünftiges Kind. Als sie 15-jährig war, wurde ihre Mutter schwanger, aber das Kind kam tot zur Welt. Ein Jahr später geschah dasselbe noch einmal. Sie litt sehr darunter, dass sie zwar diese Geschwister sehen durfte, dass aber danach nie mehr darüber gesprochen wurde.
«Nach einigen Minuten habe ich das Gefühl, diese Menschen schon seit langer Zeit zu kennen.»
Erika Kestenholz
Die andere Frau berichtet davon, wie ihre Mutter, als sie merkte, dass es Zeit war fürs Gebären, ihre zwei Geschwister zu den Schwiegereltern brachte, die Hebamme rief, und dass eine halbe Stunde nach ihrer Geburt ihre Geschwister wieder zuhause spielten. So wurde die Routine der Familie kaum gestört. Als ihre Mutter an Krebs erkrankte, gaben ihr die Ärzte noch eine Frist von drei Monaten. Sie kämpfte elf Jahre lang gegen die Krankheit an. Während jeder der neun Chemotherapien kam ein Enkelkind zur Welt. Sie starb in Würde, und an ihrem Sterbelager wurde sogar noch herzlich gelacht; worüber, das verrate ich hier nicht!
Vom Beruf her ist den Frauen das Thema Sterben nicht fremd, aber beide sagen, daran gewöhnen könne man sich nicht. Und wenn Angehörige wie die eigenen Eltern sterben, ist das nochmals etwas ganz anderes. Die zunehmende Lebenserfahrung lehrte sie, dass neben den Sterbenden auch deren Angehörige auf Fürsorge und Mitgefühl angewiesen sind.
Und das war’s – von heute auf morgen und doch nicht ganz überraschend.
Zwei Einsätze als «Doorkeeperin» zum Raum mit den Interviews habe ich im Museum absolviert. Es war interessant zu beobachten, wer das sehen und hören wollte. Ganz eindeutig waren die Frauen in der Überzahl. Ein Pfarrer war mit sechs Konfirmandinnen da. Zweimal haben sie sich einen ganzen Beitrag angesehen, mit einer Stunde Pause dazwischen. Sie waren mehrheitlich beeindruckt und berührt. Mit dem Pfarrer konnte ich mich anschliessend noch unterhalten. Vor- und Nachbereitung seien aber erforderlich, um das Thema Leben und Tod auch aus eigener Sicht angehen zu können. Es gab auch BesucherInnen, die den Raum nach einer Viertelstunde wieder verliessen. Eine mit dem Kommentar: «Das ist mir jetzt gerade zu heftig.» Ein Besucher bedankte sich, es sei sehr beeindruckend.
Auf weitere Einsätze habe ich mich gefreut, auch darauf, selber als Besucherin noch nicht gesehene Beiträge im Museum anzuschauen. Da ich der Meinung bin, dass Geburt und Tod die grössten und wichtigsten Ereignisse im Leben eines Menschen sind, höre ich gerne solchen Gesprächen zu. An meine Geburt kann ich mich nicht erinnern und was nach meinem Tod kommt oder wie ich sterben werde, weiss ich auch nicht.
Und nun ist schon wieder Ende. Das Museum bleibt ab 24. Oktober geschlossen. Wenn wir Glück haben, können wir ab Ende November bis 6. Dezember noch ein paar Mal als TürsteherInnen den Raum «Death and Birth …» betreuen. In der Zwischenzeit werden viele Menschen geboren werden und viele gestorben sein. Einige davon am Corona-Virus.