
Erika, wie lange machst du schon Steno?
Mit Steno habe ich im Jahr 1957 begonnen; damals war ich in der 9. Klasse, und es war üblich, dass man einen Anfängerkurs beim lokalen Stenoverein besuchte, um bei Beginn der Lehre das System der Kurzschrift bereits zu beherrschen und sich auf die Geschwindigkeit konzentrieren zu können. Es wurde damals meistens davon ausgegangen, dass Frauen eine KV-Lehre absolvierten und später im Büro arbeiten würden. Während der Lehre sind wir oft am Sonntag in die Kirche gegangen und haben die Predigt stenografiert. Das war fast wie ein Sport. So konnten wir trainieren und Geschwindigkeit erreichen, um nachher an Stenowettschreiben einen Preis zu gewinnen. Nach den Wettschreiben fand die Rangverkündung statt und anschliessend wurde bei Musik und Tanz gefeiert.

Schnell, präzise und zeitlos?
Stenografie, auch Kurzschrift genannt, ist eine Schreibtechnik, die durch vereinfachte Zeichen und Symbole ermöglicht, gesprochene Sprache in hoher Geschwindigkeit festzuhalten. Ursprünglich für Büroarbeit und Protokollführung entwickelt, findet sie heute noch Anwendung in der Parlamentsdokumentation, bei wissenschaftlichen Aufzeichnungen und als persönliches Notizwerkzeug. Stenografie vereint Schnelligkeit, Präzision und die Kunst, komplexe Inhalte auf kleinstem Raum festzuhalten.
Wann hast du deine ersten Wettschreiben gemacht?
Das war im ersten Lehrjahr 1958. Wir haben mit 80 Silben pro Minute begonnen, und ich glaube, meine höchste Silbenzahl war so um 140. Es war auch interessant, dabei andere Kolleginnen und Kollegen kennen zu lernen, die schon weiter waren. Rund um den Zürichsee fanden verschiedene Wettbewerbe statt, und da nahmen wir immer teil.
Wo hast du die kaufmännische Lehre gemacht und was hast du nachher gearbeitet?
Ich habe die Lehre in einem Fabrikationsbetrieb, den Gurit Gummiwerken AG gemacht. In der Gurit hatte ich einen Franzosen als Abteilungsleiter, der mir einen Kontakt zu einer Firma in Lyon vermitteln konnte. Es war am Anfang sehr hart. Bei meinen französischen Kolleginnen war ich nicht willkommen, und wenn ich nicht meinen Kopf durchgesetzt hätte, wäre ich nach zwei Wochen wieder nach Hause gereist. Es wurde dann doch eine interessante, wunderschöne Zeit, und nach einem Jahr wollten sie mich nicht mehr gehen lassen.
Hast du da Steno schon brauchen können?
Ich habe Steno beruflich nie gebraucht, aber ich habe mir diese Fähigkeit immer am Leben erhalten, indem ich Tagebuch geschrieben habe, oder wenn ich zum Beispiel irgendwelche Aufgaben bekam, habe ich alles für mich stenografiert. Das war kein Problem, da auch französische Steno in der kaufmännischen Lehre als Freifach gelehrt worden war. Ursprünglich habe ich Steno gelernt, um bei einem «Herrn Direktor» ins Diktat zu gehen, was dann aber nie der Fall war. Immer wenn ich etwas vorbereiten musste, habe ich zum Notieren Steno angewendet.
«Steno ist ein Kulturgut, das es verdient, gepflegt zu werden.»
Erika Jampen
Was macht die Steno für dich so faszinierend?
Ich habe die Stenografie zwischen 1957 und 1961 erlernt und habe bis zum Jahr 1978 in keinem Stenoverein mitgemacht. Damals arbeitete ich als Maschinenschreiblehrerin in der kaufmännischen Berufsschule Thun und in der Noss Spiez. Dort wurde ich gefragt, ob ich für eine kranke Stenolehrerin Stellvertretung übernehmen könnte. Ich habe abgesagt, nicht weil ich Angst hatte, das System nicht mehr zu beherrschen, sondern weil zwei Jahre vorher eine Systemrevision erfolgt war. Daraufhin habe ich mich zu einer Total-Repetition entschlossen und bin so zum Korrespondenzklub des Schweizerischen Stenografenverbandes gekommen. Dort hat mich ein altgedienter Stenograf wieder auf den neusten Stand gebracht. Seither bin ich im Korrespondenzklub in mehreren Gruppen aktiv.
Was hat der Korrespondenzklub für eine Funktion?
Der Korrespondenzklub nimmt Mitglieder auf, die in keinem Stenoverein mitmachen können, weil es in der Schweiz nicht mehr viele Stenovereine gibt. Steno wurde aus dem offiziellen Stundenplan gestrichen. An den öffentlichen Schulen wird Steno nicht mehr unterrichtet. Erst war es noch Freifach, dann wurde es ganz aufgehoben, weil andere Fächer wichtiger wurden. Das ist übrigens dem Tastaturschreiben genau gleich ergangen.
Mitglieder des Korrespondenzklubs und des Schweizerischen Stenografenverbandes erhalten ab und zu Anfragen von Firmen, Institutionen und Privaten, Stenogramme in Langschrift zu übertragen. So hat mich vor einigen Jahren die Tochter eines Pfarrers gebeten, Predigten ihres Vaters (alle stenografisch verfasst) zu übertragen. Es war für die Tochter interessant, die Predigttexte zu ihrer Taufe, von Feiertagen oder jene zum Ende des zweiten Weltkrieges lesen zu können.
2018 feierte eine kleine Berggemeinde im Friaul ein Jubiläum und plante dazu eine Ausstellung. In den 1920er Jahren war sie vom Schweizer Dialektologen Paul Scheuermeier, der sich für die Arbeit der Bauern, ihre Geräte, ihre Sprache und ihre Lebensart interessierte, mit dem Ziel einen Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz zu erstellen, besucht worden. Scheuermeier hatte all seine Begegnungen mit der Bevölkerung stenografisch festgehalten. Über eine Freundin im Tessin erhielt ich Kopien dieser Stenogramme zur Übertragung. Da sie an den Rändern teilweise unlesbar waren, suchte ich nach den Originalen und fand sie im Romanistischen Institut der Uni Bern. Dort war es mir möglich, die Stenogramme zu vervollständigen und sie für die Ausstellung in Forni Avoltri zu übertragen.
Wo braucht man Steno noch und warum?
Wir sind ein überalterter Verein, aber Steno ist ein Kulturgut, das es verdient gepflegt zu werden. Es gibt auch in St. Gallen viele junge Leute, zum Beispiel Studenten der HSG, die mit Erfolg Kurse bei einer ausgezeichneten Stenografin besuchen. Zudem finden in verschiedenen Schweizer Städten Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene sowie regelmässige „Steno-Stämme“ für Trainings statt.
Bei den Intersteno-Kongressen, die mit ungefähr 500 Teilnehmenden alle vier Jahre weltweit in grösseren Städten stattfinden, hat die ursprüngliche Hand-Steno zugunsten von Tastaturschreiben, Textverarbeitung und Protokollieren etwas an Bedeutung verloren. Ein wichtiger Zweig ist jedoch noch immer die Parlaments-Stenografie. In Deutschland – nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in den einzelnen Bundesländern – werden noch zahlreiche Parlaments-Stenografen und -Stenografinnen beschäftigt. Auch in Italien, allen östlichen Ländern inkl. Japan und China sowie in Südamerika sind die Parlaments-stenografen noch sehr gefragt.
«Es gibt auffallend viele sehr alte, immer noch aktive Menschen in den Stenovereinen.»
Erika Jampen
In Italien hat sich mithilfe von Stenografiermaschinen eine interessante Dienstleistung durchgesetzt: Interessierte Leute werden an der Stenografiermaschine ausgebildet und werden dann fürs Protokollieren von Anlässen grosser Firmen eingesetzt. Zu zweit verfassen sie das Protokoll: eine Person nimmt das Gesprochene mit der Stenomaschine auf. Diese ist mit dem PC der zweiten Person gekoppelt. Dort wird der Text redigiert und mit Satzzeichen versehen. Gemeinsam kontrollieren die Beiden das Protokoll und drucken die gewünschte Anzahl. Wenn die Teilnehmer des Anlasses das Mittagessen hinter sich haben, erhalten sie das gebundene Protokoll.
Es gibt auffallend viele sehr alte, immer noch aktive Menschen in den Stenovereinen.
Verlängert Steno das Leben?
Ich denke schon, das ist wie bei Menschen, die Kreuzworträtsel lösen und so ihre grauen Gehirnzellen noch aktiv halten. In der Steno muss man das auch und kann in den Vereinen zudem soziale Kontakte pflegen.
Brauchst du Steno auch für persönliche Mitteilungen?
Ja, Stenokolleginnen gratuliere ich zum Geburtstag gerne mal in Steno. Das ist schon üblich. Heutzutage ist das fast wie eine Geheimschrift.