Liebe Liselotte, woher kommst du?
Ich wuchs mit drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester, in Gais auf. In diesem Ostschweizer Bauerndorf kannten und duzten alle einander. Nur wir durften das nicht, da wir von St. Gallen zugezogen waren. Mein Vater war Sekundarlehrer. Ich kann mich gut erinnern, wie meine Eltern mir jeden Tag vor der Schule einschärften, anständig zu sein und ja niemanden zu duzen. Die Berufswahl meines älteren Bruders war eine wichtige Sache und gab zu vielen Diskussionen Anlass. Aber bei mir war das offenbar nicht der Rede wert, da ich ja sowieso später heiraten würde. Mein Wunsch war es jedoch, Hauhaltungslehrerin zu werden, und ich setzte mich durch. Nach dem obligatorischen Haushaltslehrjahr in Genf konnte ich dann meine Ausbildung in St. Gallen antreten. Nach ein paar Jahren Berufstätigkeit an mehreren Orten heiratete ich dann und brachte drei Kinder zur Welt. Nach der Geburt des dritten Kindes kam es aber bald zur Trennung von meinem Mann. Später lernte ich meinen zweiten Mann kennen und wir zogen zusammen mit den drei Kindern nach Meiringen. Ich hatte dort eine Stelle, arbeitete aber auch auf dem Hasliberg. Bis dahin war es Tradition gewesen, dass nur Mädchen den Haushaltunterricht besuchten. Nun aber gab es gemischte Klassen. An ein Ereignis kann ich mich besonders gut erinnern. Der Vater eines Buben, ein Bergbauer, sagte zu mir: «Jetzt aber spinnt es Ihnen!» Wozu auch sollte sein Sohn kochen lernen?
Mit meinem zweiten Mann war ich oft auf Reisen. Im Tessin gefiel es uns besonders gut. Ich liess mich 1997 mit 61 Jahren pensionieren und zog südwärts. Mein Mann arbeitete noch einige Zeit weiter und pendelte hin und her, bis er sich auch im Süden niederliess. Nach 13 Jahren fragte mich meine Tochter, die inzwischen drei Kinder hatte, ob wir nicht in die Nähe von Thun ziehen könnten. Sie ist ebenfalls Haushaltslehrerin. Wir zogen also nach Thun, um sie zu unterstützen und die Beziehung zu den EnkelInnen zu pflegen. Ich kochte gern und liebte es, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen.
Wo stehst du im Moment?
Aktuell wohne ich an der Frutigenstrasse in Thun. Ich beschäftige mich immer noch sehr gern mit Basteln und Nähen. Wenn ich ein Stück Stoff sehe, überlege ich mir sofort, was ich daraus herstellen könnte. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt, und die Wiederverwertung von Material ist mir ein grosses Anliegen. Ich bin nicht gern allein und muss mit Leuten reden können. Deswegen mache ich bei freiwilligen Organisationen mit. Mir geht es ziemlich gut im Moment, auch mit dieser Pandemie. Da ich ja geimpft bin, kann ich trotzdem sowohl meine Kinder als auch die Enkelkinder besuchen. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihnen allen.
Wohin gehst du?
Ich werde definitiv nicht mehr reisen, da mein Mann, mit dem ich immer unterwegs war, vor zwei Jahren gestorben ist. Ich bin sehr dankbar, dass ich so viel erfahren durfte. Es wäre aber doch schön, wenn ich noch die Hochzeiten meiner EnkelInnen erleben könnte. Mir ist jedoch trotz allem bewusst, dass ich nicht ewig leben werde. Mein grösster Wunsch ist natürlich, dass die Pandemie möglichst schnell vorübergeht.