
Auf der Strasse
Eingeschränkte Hygienemöglichkeiten, mangelnder Schutz vor Nässe, Kälte oder Hitze, die permanente Angst vor gewaltsamen Übergriffen oder die Angst, bestohlen zu werden. Martin* (23 Jahre) gibt Einblick in einen beklemmenden Aspekt seines Lebens – die Obdachlosigkeit.
Das hat mir Martin mit monotoner, lauter Stimme erzählt. Als wäre es nicht seine, sondern eine belanglose Geschichte. Ich darf nicht sagen, wo und wie ich ihn getroffen habe. Martin ist 23 Jahre alt, kommt aus guten sozialen Verhältnissen. Er hat eine Lehre aus Langeweile abgebrochen und dann ging es bergab: Drogen, keine Arbeit, Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz. «Es geht den meisten so beschissen,» meint er. Seine Eltern hat er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. «Vielleicht würden sie mich unterstützen – das will und kann ich nicht, ich will auch keinen Kontakt zu ihnen.» Bei diesen Worten beisst Martin sich auf die blutleere Unterlippe.
«Heimat, was ist Heimat? Interessiert mich nicht.»
Martin
Martins Haut wirkt grau, sein blondes Haar klebt am Kopf, die Hände sind schmutzig – doch die grünen Augen haben das Jugendliche nicht verloren. Ich fragte ihn, ob er nicht an einen begleiteten Ausstieg denke und wieder etwas wie Heimat haben möchte. Martins Lachen ist laut und heiser. «Rauskommen? Was für ein Scheissgedanke! Heimat, was ist Heimat? Interessiert mich nicht.» Martins Alltag auf der Strasse frisst Energie, ist auszehrend und gesundheitsschädigend.

Obdachlosigkeit
Wohnungslosigkeit, Wohnungsnotfall, Nichtsesshaftigkeit sind Bezeichnungen von Obdachlosigkeit. Obdachlose schlafen in Parkanlagen, unter Brücken, auf Bänken oder in Hauseingängen. Sie sind in den meisten Gross-städten präsent. Sie haben kein menschenwürdiges Obdach. Drogen, wie zum Beispiel Alkohol, führen zu Infektionskrankheiten, Hautkrankheiten und schlechten Zähnen. Die gesundheitliche Verfassung der obdachlosen Menschen ist häufig besorgniserregend. Die Drogen beruhigen, betäuben und so kann man doch irgendwie für einen Moment zur Ruhe kommen. Mangel an Zuwendung und sozialen Kontakten führen zur Vereinsamung und Isolation – zu Depressionen. Auf diesem Platz gibt es keine Freunde. Dazu kommt noch das Betteln, denn obdachlose Menschen sind meistens auch arbeitslos.
*Aus Gründen des Datenschutzes wurden der Name von der Redaktion geändert.
Flucht der Mennoniten
Sorglos und in vergnügter Stimmung sitzen wir zu fünft an einem mit leckeren Speisen beladenen Esstisch. Die Gastgeberin des heutigen Abendessens ist Sina, eine aufgestellte 86-jährige Frau. Es dauert nicht lange bis uns die muntere Seniorin tiefe Einblicke in ihr bewegtes Leben gewährt. Sie berichtet:
«Ich wurde am Ersten Advent 1936 in der Ukraine geboren. Meine Eltern waren einfache Leute und lebten in einer deutsch-mennonitischen Kolonie. Wie einst meine ostpreussischen Vorfahren zur Flucht gezwungen wurden, erwartete auch mich und meine Familie unverhofft ein tragisches Schicksal. Nach meinem ersten Lebensjahr wurde mein Vater unter einem Vorwand von den Russen verklagt und nach Sibirien abgezogen. Meine Mutter zog daraufhin mit mir und meinen zwei älteren Geschwistern zu ihrer Schwiegermutter – also zu meiner Oma – ins Dorf. Dort lebten wir mit zwei Tanten zusammen. Meine Mutter musste den ganzen Tag arbeiten und ich wurde noch als Windelkind in die Krippe gebracht. Ich hatte nie ein eigenes Kinderzimmer, nie eigene Spielsachen, konnte niemals selbst Entscheidungen treffen – war nur unter Druck und Aufsicht. Der zweite Weltkrieg hatte längst begonnen und als 1943 die Deutschen in Russland eindrangen, setzten uns die Russen in einen Zug nach Sibirien. Dies zu unserer Rettung und unserem Schutz, wie sie sagten. Dieser Zug sollte jedoch nie sein Ziel erreichen. Während der Fahrt wurden wir von den Deutschen bombardiert und landeten auf den trockenen Maisfeldern. Überall brannte es lichterloh. Wir haben die ganze Nacht Ängste ausgestanden. Unsere wenigen mitgeführten Habseligkeiten verbrannten. Wir haben weder geschrien noch geweint. Heute würde ich sagen, wir waren einfach stumm vor Schmerz – alt wie jung.
«Wir haben weder geschrien noch geweint. Wir waren stumm vor Schmerz – alt wie jung.»
Sina
Am nächsten Morgen konnten wir den Weg zurück in unser deutsch-mennonitisches Dorf auf ukrainischem Boden antreten. Die Strecke, die wir vorher mit dem Zug bewältigt hatten, mussten wir nun zu Fuss hinter uns bringen. So kehrten wir in unsere leeren und von den Soldaten durchwühlten Häuser zurück. Wir assen übriggebliebenes Sonnenblumenöl und auf unser Brot strichen wir Salz und Knoblauch. In jenem Winter schlief ich jede Nacht mit meiner Mutter unter ihrem Mantel. Dann kamen die Deutschen zurück und 1944 wurden wir von deutschen Soldaten nach Polen geführt. Da war ich acht Jahre alt. Mit Pferd und Wagen begaben wir uns auf diese Reise und wurden bei unserer Ankunft erst einmal ausgezogen, geduscht, entlaust und desinfiziert. Danach wurde uns ein von den polnischen Besitzern enteignetes Haus zugewiesen, wo wir schlafen konnten. Als das Deutsche Reich zusammenbrach, mussten wir einmal mehr über Nacht plötzlich alles zurücklassen. Mit meiner Mutter, meiner Oma, zwei Cousinen, die ihre Mutter verloren hatten und mit einer anderen kleineren Cousine, die keinen Platz mehr auf dem Wagen ihrer Mutter fand, machten wir uns erneut mit Pferd und Wagen auf die Flucht. Das neue Ziel: Deutschland. Irgendwie überlebten wir diesen beschwerlichen Weg voller Gefahren – im Gegensatz zu vielen anderen. In dem Gebiet angelangt, das später zur DDR wurde, kamen wir in ein Flüchtlingslager oder wie ich sagen würde, ein Hungerlager. Sechs Monate verbrachte ich dort, sah wie links und rechts Frauen und Kinder wegstarben. Nur dank bescheidenen Essensresten oder ein paar Karotten und Radieschen, die meine Mutter für uns besorgen konnte, überlebten wir. Mit neun Jahren verliess ich diesen Schreckensort und Ende 1946 erreichten wir Berlin. Ein in den USA gegründetes Mennonitisches Hilfswerk (MCC) hatte eine alte Militärkaserne in Berlin zu einem Flüchtlingszentrum umgebaut. Dort fanden wir Zuflucht. Mit 13 Personen schlief ich in einem Zimmer. Als einziges Kleidungsstück besass ich ein altes Soldatenhemd. Im Januar 1947 machten wir uns wieder auf den Weg, dieses Mal zum Bremer Hafen. Dort kam der Moment, wo ich mich von meiner Oma verabschieden musste. Sie wollte versuchen, nach Kanada zu gelangen, um uns danach von Paraguay nachzuholen.

Diese «freiwillige» Trennung war der schrecklichste Moment auf der ganzen bisherigen Reise. Bis anhin war meine Oma stets in meiner Nähe und war für mich die einzige Sicherheit in der Familie. Ich weinte, bis ich ausgetrocknet war. Am 1. Februar 1947 legten wir mit einem von den USA gecharterten Schiff nach Argentinien ab. Mindestens 20 Tage verbrachten wir auf See. Diejenigen, die kein Bett hatten, schliefen in Hängematten, unter dem Tisch oder dort, wo sonst gerade noch Platz zu finden war. Als wir Argentinien erreichten, erfuhren wir, dass in unserer nächsten Zieldestination, der paraguayischen Hauptstadt, gerade unverhofft eine Revolution stattfand. Deshalb blieben wir erst einmal für ein paar Monate in Argentinien, wo uns eine Wiese zur Verfügung gestellt und wir in Zelten untergebracht wurden. Als die Revolution ein Ende fand, reisten wir mit einem weiteren Schiff nach Asuncion. Dort wurden wir zuerst in einem Fabrik- oder Militärgebäude untergebracht, bis wir weiter in den Chaco, eine Region mit Trockenwäldern und Dornbuschsavannen im westlichen Teil von Paraguay, reisen konnten. Ein für uns sehr befremdender Ort. Alles war anders. In diesem Gebiet haben sich seit 1927 erste Mennoniten-Gruppen niedergelassen, die dann unsere mennonitische Flüchtlingsgruppe aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt wurde ich gerade 11 Jahre alt und erhielt die Hauptverantwortung für die Küche: Ich musste das Holz zusammentragen, beim Feuer bleiben, das Wasser holen, kochen und noch auf die freilaufenden Ochsen aufpassen. Mit 18 Jahren verliess ich das Haus meiner Mutter, weil ich in einem Krankenhaus angestellt wurde und mit vier anderen Schwestern ein Zimmer teilte. 1965 heiratete ich und reiste vier Jahre später mit meinem Mann nach Deutschland, wo wir 16 Jahre lebten. 1985 kehrten wir nach Paraguay zurück. Als Rentner bauten wir dann nach 2003 unser Haus, in dem ich noch heute hier in Paraguay lebe. Jetzt habe ich alles, was ich brauche und mir guttut. Mit der Rente, die ich erhalte, kann ich sorglos leben.»

«Am liebsten möchte ich in der warmen Chaco-Erde neben meinem Mann begraben werden. Das wäre dann meine letzte Heimat.»
Sina
Während Sina erzählt, bleibt uns ab und zu das Essen fast im Halse stecken. Ihre Geschichte erschüttert uns. Für Sina ist Heimat nicht an einen Ort gebunden, sondern an die Natur. Mit der Natur der Ukraine und Deutschland, die sich sehr ähnlich seien, fühlt sie sich sehr verbunden. Wobei sie anfügt, dass es ihr schwerfällt zu definieren, wo sie zuhause ist. Mittlerweilen gehöre auch Paraguay zu ihrer Heimat. Europa und Südamerika teilen sich also einen Platz in ihrer Definition von Heimat. Zum Schluss fügt sie noch an: «Am liebsten möchte ich in der warmen Chaco-Erde neben meinem Mann begraben werden. Das wäre dann meine letzte Heimat.»