Liebe Dora, wie kamst du zur Politik?
Ich war schon immer an Umweltfragen interessiert. 1972 las ich den ersten Bericht des Club of Rome und war sehr beeindruckt. Das Thema Waldsterben in allen Medien Mitte der 80er-Jahre führte dazu, dass ich mich politisierte. Ich dachte: «Wenn Bäume sterben, sterben wir auch – ich muss irgendetwas tun.»
Zur gleichen Zeit spalteten sich Leni Robert und Arthur Teuscher von der FDP ab und gründeten eine liberalgrüne Partei, die Freie Liste. Diese Partei hatte Erfolg und gewann im Kanton Bern absolut überraschend zwei Regierungsratssitze. Ich war 1986 Mitbegründerin in Münchenbuchsee. Wir waren eine kleine Gruppierung von sieben Leuten. Zur Wahl für die Periode 1988–1992 setzten wir uns alle sieben doppelt, zuerst die Frauen, auf die Liste. Die restlichen Plätze auf der Liste waren leer.
«Das hatte es vorher schweizweit
Dora Kaiser
noch nie gegeben.»
So wurdest du Mitglied der ersten Frauenfraktion auf Gemeindeebene.
Ja, es war eine grosse Überraschung, dass von unserer Liste drei Frauen gewählt wurden. Das hatte es vorher schweizweit noch nie gegeben. Vor 34 Jahren war das absolut sensationell. Sogar Leute der Universität Zürich reisten an, um uns zu interviewen und zu erfahren, wie wir das geschafft hatten. Wir hatten uns einfach zur Wahl gestellt, und es war ein Zufallstreffer. Wir waren drei Frauen von vierzig ParlamentarierInnen im Grossen Gemeinderat von Münchenbuchsee, hatten aber zu dritt im Parlament Fraktionsstärke.
Wie war der Anfang?
Die Grünen wurden damals als Spinner, Illusionisten, Verhinderer und zu nichts zu gebrauchen wahrgenommen. Wir waren Grüne und zusätzlich Frauen. Es hatte zwar einzelne Frauen in jeder Fraktion. Im Rat sprachen jedoch fast nur die Männer. Bei uns sprach notgedrungen immer eine Frau. Damit hoben wir uns von anderen Fraktionen ab.
Welche Errungenschaften sind der Frauenfraktion zu verdanken?
Nicht viele, aber gewisse Akzente konnten wir setzen. Zum Beispiel war uns die Kommunikation sehr wichtig. Im Parlament sassen wir damals wie in der Schule in Sitzreihen. Wir sahen nur die Rücken der vor uns Sitzenden. Wir beantragten eine Änderung und seither wird der Saal im Halbkreis bestuhlt.
Auch gewisse thematische Diskussionen regten wir an. Ein Beispiel: Alle Reglemente der Gemeinde waren männlich formuliert. Als ein neues Reglement behandelt wurde, verlangten wir eine geschlechterneutrale Formulierung. Die damals verrückte Idee wurde abgelehnt. Meine Kollegin war darüber so erzürnt, dass sie eine weibliche Formulierung verlangte. Das löste einen Tumult im Parlament aus; die Ratskollegen hätten uns am liebsten vor die Tür gestellt. Da merkte ich, wie wichtig die Sprache ist. Die Männer konnten sich nicht vorstellen, in einem weiblich formulierten Reglement mit gemeint zu sein.
Du brachtest einmal eine Motion ein, eine Tarifstruktur zu erarbeiten, die das Stromsparen belohnt. Dora, du könntest dich an einem Strike for Future vor die Jugend stellen und sagen: Schaut mal, schon vor etwa 30 Jahren haben wir für eure Forderungen gekämpft…
Ja, das haben wir. Ich freue mich sehr, dass jetzt so viele junge Leute sich aktiv beteiligen und in diese Richtung gehen. Damals waren wir einfach ExotInnen.
Aber auch als ExotInnen konntet ihr einige Erfolge verzeichnen.
Nicht viele, aber zwei möchte ich gerne erwähnen. Einer war «im grünen Bereich». Zusammen mit der SP, CVP und EVP konnten wir bewirken, dass der Grüngürtel um Münchenbuchsee erhalten bleibt, damit Münchenbuchsee nicht mit Zollikofen zusammenwächst.
«Ich denke, dies war wichtig für die Frauensache.»
Dora Kaiser
Der zweite Erfolg: Münchenbuchsee war Teil des Spitalverbandes Jegenstorf. Weil bei einem neuen Reglement der Verwalter und der Chefarzt die Direktion bildeten, die Pflegeleitung aber nicht vertreten war, wollten wir dieses Reglement nicht annehmen. Dank unserer Argumentation schafften wir es, dass das Reglement in Münchenbuchsee abgelehnt wurde, was einen Riesenwirbel auslöste. Ich denke, dies war wichtig für die Frauensache. Die pflegerische Leitung gehört in das oberste Führungsgremium – heute eine Selbstverständlichkeit.
Was war deine unangenehmste Erfahrung?
Im «Bund» wurde meine Stellungnahme gegen die Sanierung eines Schiessplatzes breit diskutiert. Daraufhin erhielt ich viele anonyme Briefe, unter jeder Gürtellinie formuliert: «Schlampe», «Gehen Sie ins Spital Töpfe leeren», «Befriedigen Sie Ihren Mann, aber hören Sie auf zu politisieren…». Das erschütterte mich sehr, und ich hörte, dass es anderen politisch aktiven Frauen auch so erging. Offenbar waren da ältere Männer, die sich mit dem Frauenstimm- und Wahlrecht immer noch nicht abgefunden hatten, am Werk, um systematisch Frauen zu verunsichern und fertigzumachen.
«Mein Mann war der Hahn im Korb.»
Dora Kaiser
Gibt es amüsante Erinnerungen?
Ich war Mitglied der Geschäftsprüfungskommission, als einzige Frau mit sechs Männern. Jedes Jahr gab es ein Kommissionsessen mit PartnerInnen. Der Präsident, ein älterer CVP-Mann, lud für dieses Essen ein. Weil es ein Problem im Dorf gab, musste vor dem Essen eine Sitzung abgehalten werden. Der Präsident organisierte deshalb ein Frauen-Apéro. Als ich in Begleitung meines Mannes erschien, wurde der Präsident ganz rot und verlegen. Er entschuldigte sich x-Mal bei meinem Mann, ihn zu einem Frauen-Apéro eingeladen zu haben. Normal wäre gewesen: Mein Mann geht zur Sitzung, ich zum Frauen-Apéro. Für den Präsidenten war es eine verkehrte Welt, aber für uns kein Problem. Mein Mann war der Hahn im Korb.
Eine andere Anekdote: Personen, die sich für einen Chefposten in der Gemeinde bewarben, stellten sich auch in eben dieser Geschäftsprüfungskommission vor. Ein Mann sollte als Bauvorsteher angestellt werden. Ich als einzige Frau in der Kommission fragte diesen Mann, ob er denn über eine Führungsausbildung verfüge. Allen war klar: Im Militär hatte er eine Führungsausbildung und eine solche Frage dürfte nicht gestellt werden. Doch ich erwiderte: ich meinte eine zivile und nicht militärische Führungsausbildung.
1995 warst du Präsidentin des Grossen Gemeinderates in Münchenbuchsee.
Ja, das Präsidium war die Krönung meiner Karriere, im letzten Jahr der zweiten Legislatur. Unsere Partei holte sechs Parlamentssitze und ein Exekutivmandat. Es war erstaunlich, dass ich überhaupt für das Präsidium vorgeschlagen wurde. Es war ein spannendes Jahr für mich, ich machte das gerne. Als Präsidentin musste ich zahlreiche öffentliche Akten unterschreiben, als «Der Präsident». Ich verlangte, dass dies geändert wird, was nicht geschah. Da strich ich kurzerhand von Hand das «der» durch, schrieb «die» darüber und hängte ein «in» an, was nicht gerade geschätzt wurde.
«Ich konnte Ruth Dreifuss persönlich zu ihrer Wahl gratulieren.»
Dora Kaiser
Aber das grösste Highlight meiner aktiven Zeit geschah nach der Nichtwahl von Christiane Brunner. Noch nie in meinem Leben war ich so wütend wie damals. Ich demonstrierte auf dem Bundesplatz, nahm an Mahnwachen teil, tagelang pfiffen wir Politiker vor dem Eingang ins Bundeshaus aus. Als Ruth Dreifuss zur Bundesrätin gewählt wurde, lud sie die Aktivistinnen vom Bundesplatz ans Bundesrats-Apéro ein. Das war phänomenal, ich konnte Ruth Dreifuss persönlich zu ihrer Wahl gratulieren.
Wie lange warst du in der Politik aktiv?
Ich war 8 Jahre aktiv in der Gemeindepolitik. Es belastete mich sehr, dass wir mit unseren Anliegen meistens unterlagen: 99 Prozent unserer Anträge wurden abgelehnt. Es brauchte eine grosse Frustrationstoleranz. Ich spürte, dass ich ausgelaugt war. Nach dem Präsidiumsjahr stellte ich mich nicht mehr zur Wahl, arbeitete aber noch ein Jahr für die Freie Liste und studierte gleichzeitig. Ich merkte, dass es zeitlich nicht mehr für alles reichte. Der Umzug von Münchenbuchsee nach Thun bestärkte meinen Entschluss zum Austritt aus der Politik.
Das Interview entstand aus Anlass des Jubiläumsjahrs 2021 der Frauenbewegung in der Schweiz. Mehr unter: «Feiern und Fordern»