
Wie hoch hinaus willst du?
8000-er sind kein Thema für mich. Beim Bergsteigen in solchen Höhen bin ich so abhängig von vielen anderen Menschen. Da braucht es Kontaktleute, Sherpas, Köche, ein Basislager und vieles mehr. Ein riesiger Apparat ist dafür notwendig. Ausserdem ist der klettertechnische Schwierigkeitsgrad nicht immer sehr hoch. Ich könnte probieren, eine neue, technisch sehr anspruchsvolle Route zu eröffnen, aber das würde ein erhöhtes Risiko bedeuten, schon nur wegen der Höhe. Ein Lungenödem kann jeden treffen, trotz Akklimatisation. Ich bevorzuge den «Cowboy Style» – ich nehme den Rucksack, bin weg und komme zurück. Ich bleibe lieber auf moderater Höhe, jedoch mit technisch anspruchsvollen Passagen. Wenn ich eine neue Route eröffne, habe ich das Risiko in der Hand. Bei jedem Zug entscheide ich, ob ich ihn mache oder nicht. Bei jedem Haken, den ich einschlage, muss ich abwägen, ob er mich trägt oder nicht. Wenn er mich trägt, bin ich für die nächsten Meter sicher.

«Ich bevorzuge den ‹Cowboy Style› – ich nehme
Yannick Glatthard
den Rucksack, bin weg und komme zurück.»
Meine Sicherheit ist hingegen nicht gewährleistet, wenn ich nach Bern zum Training fahre oder eine Strasse überquere. Im Strassenverkehr bin ich ungeschützt, weiss nicht, ob der Fahrer alkoholisiert oder übermüdet ist. Es liegt nicht in meiner Hand, ob ich sicher bin. Im Verkehr gehen wir ein Risiko ein.
Trainierst du regelmässig?
Ja, in einer Kletterhalle in Ostermundigen. Dort bin ich im O’bloc Team und kann mit der Kletterelite trainieren, werde gepusht und kann so mein Kletterniveau steigern. Das körperliche Training ist extrem wichtig. Training steigert meine Reserve. Wenn ich am Limit klettere, kann ich das nicht seilfrei oder an einer schlecht gesicherten Route machen, das Risiko wäre zu gross. Wenn ich dort klettere, wo die Absicherung spärlich ist – mit wenig Zwischenabsicherungen –, gehe ich nicht an meine Grenzen; so habe ich etwas mehr Reserve. Aber mit Training kann ich zunehmend grössere Schwierigkeitsgrade klettern, kann mich auf weniger gut gesicherte Routen einlassen und mich immer noch im Komfortbereich bewegen.

Hast du eine spezielle Ernährung?
Ich achte auf meine Ernährung, esse viel Gemüse, aber auch etwas Fleisch. Einfach ausgewogen und qualitativ hochwertig. Aber bestimmte Trends befolge ich nicht. Ich achte jedoch nicht nur auf meinen Körper. Die mentale Stärke ist mir auch wichtig. Kinesiologie ist eine gute Methode für mich. Wenn ich mich nach dem Aufwachen nicht 100-prozentig gut fühle, denke ich nicht einfach, ich habe wohl schlecht geschlafen. Ich suche nach der Ursache, versuche dem Gefühl auf den Grund zu gehen. Das ist für mich relevant. Ich muss wissen, was in mir abgeht. Ich will über mich lernen, und mein Feingefühl gehört für mich zum Wichtigsten.
Also hast du einen Mentaltrainer?
Nein, das ist mehr Familiensache. Meine Mutter hat sich sehr damit beschäftigt und mich auf diesen Weg gebracht.
Ich kenne Angst, klar, aber ich kann meistens damit umgehen und das ist wichtig. Angst ist ein Gefühl, aus dem man sehr viel lernen kann. Für mich ist entscheidend, wie ich mit der Angst umgehe – lähmt sie mich oder finde ich Strategien, um die Situation zu verbessern und weitergehen zu können? Ich muss mir aber der Konsequenzen bewusst sein, alles andere wäre naiv. Wenn ich jedoch die Lage kontrollieren und weiter machen kann, dann komme ich in einen Modus, der mich ganz ruhig werden lässt. Ich komme dann ohne grosse Adrenalinausschüttung auf dem Gipfel an, bin ruhig und es ist gut.

Es gibt objektive Gefahren, beispielsweise Steinschlag, Eisschlag, Lawinen, die ich nicht beeinflussen kann. Aber sonst habe ich es in meiner Hand, wie alles endet; ich steige in eine Wand, Meter für Meter, entscheide fortlaufend, ob es für mich passt. Ich nehme wahr, ob das für mich ein guter Tag ist. Wenn ich spüre, dass es an diesem Tag nicht passt, dann muss ich abbrechen und nach Hause gehen, sonst würde ich mich nicht ernst nehmen, nicht respektieren und ein grosses Risiko eingehen. Interessant finde ich, dass ich ein Risiko eingehen darf in unserer Gesellschaft. Heutzutage möchten wir Risiko oft so minimieren, dass es nicht mehr vorhanden sein sollte. Risiko gehört aber zum Leben, und ich als Bergsteiger darf darüber entscheiden, ob ich defensiv bleibe oder mich aus dem Fenster lehne. Aber wo sonst kann ich das noch? Unser Alltag ist so geregelt, dass das praktisch nicht mehr möglich ist. Klettern ist eine Lebensschule.

Was war bisher dein Highlight und was planst du als Nächstes?
Der El Capitan im Yosemite-Nationalpark, wo ich 2018 und 2019 geklettert bin, der war sehr beeindruckend. Für Januar bis März steht Patagonien – die Südspitze Südamerikas – auf dem Plan, wenn alles klappt. Wenn nicht, bleibe ich hier, es gibt auch hier sehr schöne Gipfel, die bloss etwas weniger bekannt sind.