In Papua-Neuguinea, ein Staat, der nördlich von Australien liegt, wächst Tabea in einer Schweizerfamilie auf. Sie spricht Englisch und Schweizerdeutsch. Als junge, sportliche und kommunikative Frau kommt sie mit 16 Jahren nach Zürich, bildet sich zur Kauffrau und später zur Sportmasseurin aus. Für Tabea gehören Gerechtigkeit, Freiheit und Würde zu den grossen christlichen Werten. Ein prägendes und wegweisendes Erlebnis ereignet sich in Zürich: Unterwegs mit ihrem Kleinkind trifft sie auf eine Frau, die fragt, ob sie das Köpfchen des Kindes berühren darf.
Im Gespräch stellt sich heraus, dass die Brasilianerin als Prostituierte arbeitet. Sie war unter dem Versprechen einer gut bezahlten Arbeit in die Schweiz gelockt worden – ein Schicksal, das viele Ausländerinnen teilen. Sie geraten in eine Situation, aus der sie allein nicht mehr herausfinden. Oft schulden sie den Zuhältern Geld, da sie Wucherpreise für die Miete ihrer Zimmer zahlen müssen, in denen sie ihre Kunden empfangen.
Nicht länger wegschauen
Tabea ist tief betroffen von der Geschichte. Die brasilianische Frau sieht sie nie wieder, doch deren Augen – ein stummer Hilfeschrei – haben sich Tabea eingeprägt. Sie bietet den Prostituierten Massagen an, um ein Vetrauensverhältnis aufzubauen. So erfährt sie mehr über Menschenhandel und moderne Sklaverei in der Schweiz. Vieles kann sie nur erahnen, denn die ausgebeuteten Frauen haben oft keine Sprachkenntnisse oder wagen nicht, die Wahrheit zu sagen. Ihr Ehemann Matthias, Polizist und Detektiv, kennt sich besser im Milieu aus und unterstützt Tabea. Der Wendepunkt in Tabeas Leben. Sie muss handeln.
Der Wendepunkt
Tabea, die sich für Gerechtigkeit und Freiheit einsetzt, gründete 2011 mit Freundinnen «glowbalact», eine Wohltätigkeitsorganisation gegen Menschenhandel. Sie setzt sich aktiv für Opfer von Menschenhandel ein. Das Ziel ist, die Betroffenen auf ihrem Weg in ein freies und selbstbestimmtes Leben zu begleiten. «Die Würde des Menschen ist unantastbar», betont Tabea. «Menschen sind keine Objekte, und jeder hat das Recht, selbst über seinen Körper zu bestimmen.»
Sie und Matthias wollen ein weiteres Projekt starten: Eine geschützte Werkstatt, die ausgebeuteten Frauen die Möglichkeit bietet, einer legalen und würdigen Arbeit nachzugehen. Der Weg in der Schweiz ist kompliziert und voller Hürden. Sie kommen nicht voran und beschliessen daher, ihr Projekt im Ausland zu verwirklichen.
KitePride entsteht in Tel Aviv
Tel Aviv, oft als das «New York des Nahen Ostens» bezeichnet, ist eine Stadt voller Lebensfreude und Gelassenheit. Hier leben viele initiative Menschen, die für ihre Hilfsbereitschaft, Unkompliziertheit und starke Vernetzung bekannt sind. Ihr Motto lautet: «Gelingt es nicht – versuchen wir es nochmals!» Eine Mentalität, die für Tabea zunächst ungewohnt ist, die sie jedoch sehr inspiriert.
«Gelingt es nicht – versuchen wir es nochmals!»
Verbreitete Mentalität in Tel Aviv
Im Jahr 2014 zieht Tabea mit ihrer Familie nach Tel Aviv und gründet zunächst ein Sozialunternehmen, das Möbel aus Paletten herstellt, um Menschen aus der Ausbeutung zu befreien. Das Projekt wird jedoch nach einiger Zeit aufgegeben, da die Möbel nur lokal verkauft werden können.
«Opfer brauchen kein Mitleid, sie brauchen einen Job.»
Tabea Oppliger
Anschliessend entsteht das Sozialunternehmen KitePride, das auf den gleichen Grundsätzen basiert. Tabea betont immer wieder: «Opfer brauchen kein Mitleid, sie brauchen einen Job.» KitePride bietet Rehabilitationsarbeit und betreute Arbeitsplätze für Menschen, die sexuelle Ausbeutung erlebt haben. Da die Betroffenen oft keine Ausbildung haben, ist der Zugang zu fairer Arbeit für sie äusserst schwierig. Das Programm zur beruflichen Eingliederung bietet diesen Menschen eine neue Chance. Matthias sagt: «Eine traurige Wahrheit ist, dass in Israel mindestens 15’000 Personen in der Sexindustrie arbeiten und 76 Prozent sagen gemäss offizieller Umfragen, wenn sie könnten, würden sie aussteigen. Wir haben aktuell 105 Betroffene bei uns im 24-Monate-Programm. Das heisst, in Ausbildung und Arbeitsintegration.»
Als begeisterte Kitesurferin kommt Tabea zusammen mit Freundinnen auf die Idee, aus alten, zerrissenen Kitesegeln Taschen zu fertigen. Eine befreundete Schneiderin, die sich mit dem Material auskennt, unterstützt sie im Atelier. Mit der Zeit wächst die Werkstatt, und es wird immer mehr qualifiziertes Personal benötigt, denn 40’000 Produkte/Unikate werden hergestellt. Matthias rechnet aus: «Das entspricht 20’000 Quadratmeter Upcycling von Kitesegel-Material.»
Matthias übernimmt die Personalplanung und agiert als Manager. Dank der Unterstützung aus Israel und der Schweiz sowie durch Spenden gelingt dieser wertvolle Schritt.
Leidenschaft, ein Sinn für Gerechtigkeit und Initiative sind prägende Eigenschaften von Tabea und Matthias. Sie gründen auch das «Hope Center» in Tel Aviv, um echte Veränderungen und Hoffnung für Überlebende des Menschenhandels zu schaffen.
2021 entwickelt glowbalact in Israel ein zweijähriges Integrationsprogramm. In dreimonatigen Kursen werden die Teilnehmer:innen auf den Arbeitsmarkt vorbereitet und anschliessend über 24 Monate professionell begleitet.
Zurück nach Steffisburg
Warum verlässt Tabea mit ihrer Familie nach 10 Jahren Tel Aviv? Die Stadt, die sie liebt, in der sich alle wohl fühlen, in der sie sich auf Hebräisch und Englisch unterhalten können und wo ihre Projekte erfolgreich sind?
«Die Herausforderung in Israel besteht darin, eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten, wenn man nicht jüdisch ist», sagt Matthias. Die Bewilligung ist seit Jahren ausstehend. Weil die Kinder in die Ausbildungsphase eintreten, entscheidet sich die Familie Oppliger für ein Leben in der Schweiz. In Steffisburg Fuss zu fassen, sei nicht einfach, obwohl ihre Familien in der Nähe wohnen. Die Sonne, das Meer, die Gelassenheit – all das fehlt ihnen.
«Die Herausforderung in Israel besteht darin, eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten, wenn man nicht jüdisch ist»
Matthias Oppliger
Doch es gibt gute Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder, und das ist von grosser Bedeutung. Ihre Projekte funktionieren selbstständig; sie haben alles so organisiert, dass es auch ohne ihre Anwesenheit weiterläuft. Aber die Sehnsucht und Liebe für Tel Aviv bleiben bestehen. Matthias ist nun in Kontakt mit Amsterdam, um das Sozialprogramm KitePride zu erweitern. Sie arbeiten von der Schweiz aus und pflegen engen Kontakt mit Tel Aviv.
Tabea und Matthias haben viel erreicht, um das Leiden der ausgebeuteten Frauen zu lindern. Ihre Arbeit ist bewundernswert!