
Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und vor allem die Technologien werden immer komplexer. Wenn ich bei meiner Arbeit in einem Krankenhaus eine Diagnose google, um besser über eine Krankheit informiert zu sein, habe ich oft den Eindruck, nach der Suche weniger zu wissen als vorher. Ich frage mich dann oft, warum alles so komplex ist.
Wissen und Forschung sind wichtig, das steht ausser Frage. Doch neues Wissen stellt uns vor noch mehr Fragen. Wäre unserer Gesellschaft nicht besser geholfen, die Welt einfach so lassen, wie sie ist? Für mich gab es nur eine Lösung auf meine vielen Fragen. Bei jemandem nachzufragen, der sich tagtäglich mit dem Thema Komplexität befasst wie Astrophysikerin Kathrin Altwegg. Die 72-Jährigeist assoziierte Professorin an der Universität Bern und ehemalige Direktorin des «Center for Space and Habitability».
«Die Vergangenheit lehrt uns, dass der Mensch Erkenntnisse und Technologien zu seinem Nutzen, aber auch immer zu seinem Schaden anwendet – zum Beispiel die Nukleartechnologie.»
Kathrin Altwegg
Frau Altwegg, ist es Ihr Lebensziel, die Komplexität unseres Lebens vollständig zu verstehen?
Kathrin Altwegg: Nein, ich weiss nicht, ob es uns je gelingen wird, diese Komplexität zu verstehen. Und ich bin fast sicher, dass es besser ist, wenn uns das nie gelingt. Die Vergangenheit lehrt uns, dass der Mensch Erkenntnisse und Technologien zu seinem Nutzen, aber auch immer zu seinem Schaden anwendet – zum Beispiel die Nukleartechnologie. Könnten wir Leben erschaffen, würde dies fast sicher auch missbraucht.
Glauben Sie an Zufall oder ist alles vorbestimmt?
Ja, den Zufall gibt es selbst in der Physik. Insbesondere in der Quantenmechanik ist es reiner Zufall, welchen Zustand ein Teilchen annimmt. Aber es gibt auch in der Natur viele chaotische Zustände, deren Zukunft nicht vorausbestimmt ist.
Gibt es bei Ihren Forschungen manchmal Momente der Verzweiflung, weil Antworten immer wieder neue Fragen aufwerfen?
Nein, das ist in meinen Augen das Schöne an Forschung: Je mehr wir verstehen, umso mehr Geheimnisse tauchen auf. Man dringt immer tiefer in die Materie ein und weiss, dass man nie alles verstehen wird. Man steht also nie vor dem Ende: Jetzt weiss ich alles, was nun? Und je mehr man von der Natur versteht, umso grossartiger wird sie.

«Ich weiss nicht, ob es uns je gelingen wird, diese Komplexität zu verstehen. Und ich bin fast sicher, dass es besser ist, wenn uns das nie gelingt.»
Kathrin Altwegg
In einem Interview sprachen Sie kürzlich von der Existenz einer höheren Dimension Gottes. Hat Ihnen dieser Glaube geholfen, sich nicht in der Komplexität zu verlieren?
Ich kann sehr gut akzeptieren, dass es Grenzen gibt für naturwissenschaftliche Erkenntnisse, und dass wir damit nie alles erklären können. Gibt es eine höhere Dimension? Wir können das weder beweisen noch widerlegen. Fall es das gibt, ist es eben eine höhere Dimension, die sich den naturwissenschaftlichen Messmethoden entzieht.
«Das Klima ändert sich, Organismen entstehen und vergehen, so auch der Mensch. Jede Apokalypse ist das Ende eines Zeitalters, aber schafft Platz für Neues.»
Kathrin Altwegg
Meine Generation hat viele Zukunftsängste: Klima, Kriege, Sinnfragen im Allgemeinen. Man möchte am liebsten alles unter Kontrolle haben, aber auf der Suche nach Antworten leidet die Psyche. Haben Sie einen Rat, um sich nicht zu verlieren?
Mir persönlich hat es geholfen, mich mit der Geschichte des Universums, der Erde und des Lebens zu befassen. Das relativiert vieles. Das Klima ändert sich, Organismen entstehen und vergehen, so auch der Mensch. Jede Apokalypse ist das Ende eines Zeitalters, aber schafft Platz für Neues. Schauen Sie in den Nachthimmel, stellen Sie sich vor, dass Sie aus dem Staub von Sternen bestehen, und dass Sie dereinst wieder Teil eines Sterns werden. Und dann staunen Sie ab der Vielfalt und der Schönheit unserer Natur, der Pflanzen und Tiere, alles Teile von Sternenstaub. Damit nehmen Sie den Alltag gelassener. Wir sind zwar klitzeklein, aber doch Teil dieses grossen Ganzen.
Veranstaltungshinweis: Begegnung mit Kathrin Altwegg
Wann: 18. Januar 2025 (Talk: 10.30 Uhr | Mittagessen: 12 Uhr | Workshop: 13 Uhr
Wo: Offenes Höchhus, Höchhusweg 17, 3612 Steffisburg
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