
Der Briefkasten von Marlene Hiltpold (26) ist Dreh- und Angelpunkt des «Ausgelesen»-Tandems: Buch mit einigen Grussworten auf einer Karte rein – Buch mit Grusskarte raus. Lesen. Schreiben.
Gesehen haben wir Tandem-Schreiberinnen uns bisher erst zweimal. Ein erstes Zusammentreffen findet auf Vermittlung von Elias im Berner Generationenhaus statt. Marlene erzählt von ihrer Idee zum gemeinsamen Besprechen von aktueller Belletristik. Wir sitzen uns gegenüber, spielen Buchtitel-Ping-Pong und wissen gleich: Das machen wir zusammen. Das erste «Ausgelesen» erscheint und ein Jahr vergeht mit ziemlich einträchtiger Titelauswahl für die einzelnen Beiträge. Beim zweiten Treffen, geplant ist eigentlich ein Apéro, der aber infolge Platzmangel in der Bar, zum Teekränzchen mutiert. Wir kennen uns da schon etwas besser, dennoch unterhalten wir uns übers Lesen, über Bücher, über Autoren und verabreden uns zu einem nächsten Buchwechsel via Briefkasten.

Das jetzige Wiedersehen via Zoom nach einem weiteren Jahr hat fast etwas von einem konspirativen Treffen. Wir sind beide etwas aufgeregt. Das digitale Fenster geht auf und zeigt Marlene vor einem Büchergestell. Das ist schon mal gut, denke ich und versuche nicht allzu neugierig die Buchtitel hinter ihr zu entziffern.
Von struben Geschichten und treuen Begleitern
Früh schon liest die kleine Marlene. Die Mutter «füttert» sie mit Erstlesebüchern und ebnet ihr damit den Weg in neue Welten. Marlene schreibt auch selber kleine Geschichten, denn sie ist «fasziniert davon, was man damit alles ausdrücken kann». Bald braucht sie dickere Bücher. Als 10-Jährige kommt es vor, dass sie in der Stadtbibliothek Thun das Einverständnis der Eltern vorweisen muss, um «so strube Geschichten» auszuleihen, die eigentlich nicht für ihr Lesealter gedacht sind.
Lesen bietet ihr Rückzugsmöglichkeiten – insbesondere an Schlechtwettertagen – oder Ablenkung von belastenden Alltagsthemen. Marlene liest am liebsten auf dem Sofa oder im Bett und wählt gerne nachdenkliche Themen und Coming-of-Age-Titel, neudeutsch für Entwicklungsromane. Auf die Frage, ob sie eineN LieblingsautorIn hat, kommt sofort: «Sarah Kuttner ist schon sehr, sehr cool; sowas möchte ich gerne selbst geschrieben haben.» Ich frage zögernd: «Angenommen, ein Buch über dich würde erscheinen», Marlene lacht und ergänzt: «was wäre der Titel? Uff, schwierige Frage, ich denke drüber nach.»

Einige Kapitel aus dem Buch «Marlene»
Marlene ist in der Nähe des Thuner Schlossbergs aufgewachsen. Sie ist die grosse Schwester zweier Brüder, «gross nicht bezüglich Körpergrösse», präzisiert sie gleich. Sie hat eine lebhafte Familie, die – vorzugsweise am Stubentisch – viel und emotional diskutiert. So sind denn auch Familienferien Marlenes stärkste Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse. Thun war immer und bleibt auch jetzt noch zentral, denn da sind Elternhaus, Volleyball-Verein, Freunde.

Ein erster Aufbruch aus dem Zuhause soll für mehrere Wochen nach Kanada führen. Sie kommt zwar dort an, reitet aber bald mal aus und stürzt dann so schwer hoch vom Ross, dass der Aufenthalt nach einem Spitalaufenthalt abgebrochen werden muss.
Der zweite Aufbruch ist die Buchhändlerlehre bei der Berner Buchhandlung Stauffacher. Da seien ihr die Augen übergegangen, angesichts all der Bücher. «All die Verlage», sagt sie. «All die Covers», sage ich und frage: «Kommt es vor, dass du auch mal ein Buch zweimal liest?» «Ja, Stephen King, weil ich in seinen Büchern immer neue Dinge und Verknüpfungen zu anderen Werken entdecke.» Halt! Wir sind schon wieder beim Thema.
Herausforderungen heute
Buchhändlerin war gut und stundenweise arbeitet sie heute weiterhin bei Stauffacher. Aber sie hat Lust auf etwas anderes und immatrikuliert sich an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten für den Studiengang Soziale Arbeit.
«So habe ich mir das Studium nicht vorgestellt! – wobei, eine Viertelstunde vor Vorlesungsbeginn aufstehen hat schon seinen Reiz!»
Marlene Hiltpold
Ihr Praktikum absolviert sie im Seeland und hat da jetzt eine befristete Anstellung im Sozialdienst der Gemeinde. Dieses Arbeitspensum ist gut vereinbar mit dem Studium – sie hat nur noch ein Jahr bis zum Bachelor – und den stundenweisen Einsätzen in der Buchhandlung. Mittlerweile lebt sie mit einer Studienkollegin in einer Wohnung (mit besagtem Briefkasten) in der Berner Länggasse.
Warum Soziale Arbeit? Sie liebe Herausforderungen, meint Marlene mit festem Blick in die Kamera. So erhält sie Einblicke in Leben, die ihr völlig fremd sind, wird in Schicksale einbezogen, mit denen sie bisher nicht in Berührung kam. So lernt sie beispielsweise Menschen mit Fluchterfahrung kennen. Nein, sie hat kein übertriebenes Helfersyndrom. Helfen auf ihrer beruflichen Ebene ist für sie negativ konnotiert und signalisiert ein Machtgefälle im Sinne von: Ich bin in der Lage, dir zu helfen, da ich mehr kann als du.
Der gute fachliche Austausch im Team hilft ihr bei der Abgrenzung, wenn sie sehr schwierige Geschichten zu hören oder zu bearbeiten bekommt. Was auch hilft: Reiten, das sie trotz schlechter Erfahrung in Kanada weiterhin pflegt, in normaleren Zeiten Kontakte mit Freunden und Bekannten oder lesen. Aber in der Coronazeit fällt selbst ihr das Lesen schwer.

Marlene und Corona
Das Virus hat sie bisher nicht erwischt. Aber sie musste kürzlich in Quarantäne. Nun kennt sie die Pfade der eigenen Wohnung in- und auswendig. Für ihre persönliche Situation in der Pandemiezeit gibt es bloss das Wort «mühsam». Was ihr am meisten fehlt? «Hu, bin grad überfordert… Aber mal wieder so richtig tanzen und nicht bei jedem Kontakt überlegen, ob das jetzt wohl schon wieder zu viel ist, das wäre schön.» Sie sieht schon ein, dass sie ja eigentlich keine Sorgen hat, einen Lohn erhält, arbeiten und studieren kann. «Aber so habe ich mir mein Studium nicht vorgestellt – wobei, eine Viertelstunde vor Vorlesungsbeginn aufstehen oder einer Vorlesung gar vom Bett aus folgen, hat schon seinen Reiz!» Die Pendlerei von Bern nach Olten fehlt ihr auch keineswegs. In der Berufsarbeit aber ist sie stark von der Pandemie betroffen. In alle Gespräche mit den Klienten fliessen zusätzliche Sorgen und Ängste ein.
Ihr Blick schweift über den Bildschirm hinweg ins Innere ihres Zimmers. Offensichtlich steht da noch ein weiteres Büchergestell. Gerade vor dem Lockdown habe sie noch ein besonders schönes Kochbuch gekauft mit tollen süssen Backrezepten. Sie sucht den Band hervor, wir bewundern gemeinsam die schöne Aufmachung, vergleichen mit anderen Titeln. Wir haben beide wohl noch lange nicht ausgelesen.
4 Fragen an Marlene
Wofür würdest du mitten in der Nacht aufstehen?
Vor vielen Jahren bin ich um Mitternacht aufgestanden, als ich an den Mitternachtsverkauf vom letzten Harry-Potter ging.. 😉 Ansonsten: Für meine Freunde und meine Familie, falls irgendetwas ist.
Welche wichtige Person/Persönlichkeit möchtest du einmal treffen?
Schwierig. Ich denke, Stephen King wäre eine sehr interessante Person für ein Meet & Greet. Seine Bücher begleiten mich schon sehr lange und immer wieder. Ich hätte auf jeden Fall einige Fragen an ihn.
Wieso machst du bei UND mit?
Mit unseren Buchempfehlungen erreiche ich eine andere Gruppe Leute als beispielsweise auf Instagram. Der Generationenaustausch inspiriert und bereichert mich.
Was bringt dich auf die Palme?
Intoleranz und voreingenommene Menschen.
Danke für das super Interview. Ihr seid beide sypathische und interessante Frauen und ich lese eure Tipps gerne. Ich war auch mal Sozialarbeiter. Die Bilder in der Küche: Sprung ins Weinglas: lustig und kühn. Tanzen in der Küche: Mache ich trotz Miniküche auch, z.B. wenn ich auf das Gepiepse des Backofen warten muss, denn ohne zu tanzen, empfände ich mein Leben als ziemlich öde. Häbets guet!