Karin, du bist eine erfahrene Seglerin. Welches Erlebnis hat dich am meisten geprägt?
Unerfahren im Segelsport, knapp 20 Jahre alt, liess ich mich an einem Frühlingsnachmittag von zwei Studenten der Ingenieurschule zum Segeln auf der Kieler Förde einladen. Sie hatten einen «Piraten», das ist eine Jolle mit Schwert. Sie hat eine Segelfläche von etwa zehn Quadratmetern. Es wehte ein frischer Wind. Mich faszinierte, wie wir, nur vom Wind getrieben, lautlos über das Wasser gleiten konnten. Aber leider wurde es sehr böig. Nach nur einer Stunde Vergnügen kenterten wir.
Wie ging es weiter?
Das Wasser war noch recht kühl, die Küste schwimmend zu erreichen war aussichtslos. Unsere Habseligkeiten schwammen davon. Ziemlich hilflos hielten wir uns am hölzernen Bootsrand fest und klapperten mit den Zähnen. Die Seepolizei hatte uns schon entdeckt, kam mit einem starken Motorschiff zu unserer Rettung. Sie nahm auch unseren «Piraten» ins Schlepptau … Ende gut, alles gut!

Und trotzdem wurde aus dir eine passionierte Seglerin. Wie kam es dazu?
Erst viel später konnte ich auf dem Thunersee meinen Segelschein machen, lernte wie man bei «Mann über Bord» agieren muss und vieles mehr. Mein Segellehrer organisierte jedes Jahr Segeltörns im Mittelmeer, charterte dazu eine 44-Fuss lange Segelyacht, die Platz für acht Personen bot, mit allem, was man so braucht. Diese Segeltörns erwiesen sich als anspruchsvoll und du konntest auch den Segelschein fürs Meer machen. Dazu wurden allerdings 1000 Meilen segeln auf dem Meer verlangt.
«Nach nur einer Stunde Vergnügen kenterten wir.»
Karin Mulder
Gab es auch mal eine brenzlige Situation?
Ja. Wir starteten in Athen und segelten in zwei Wochen durch die Kykladen nach Rhodos. Leider gerieten wir in einen Sturm mit hohem Wellengang. Dann zerriss noch die Fock. Das kleine Sturmsegel reichte nicht aus, um uns auf Kurs zu halten. Wir waren bald erschöpft, wurden seekrank und bekamen Angst. Stundenlang tanzte das Schiff wie eine Nussschale auf den Wellen. Wir kannten unsere Position nicht mehr. Wie erlösend war dann das Leuchtfeuer von Serifos. Wir liefen in den Hafen ein, tauschten unsere nassen Kleider gegen einen trockenen Pyjama und schliefen selig ein. Die Sonne kitzelte uns wach, das Meer war ruhig, wir fanden einen Segelflicker am Hafen, alles war wieder gut.

Ist einem das Risiko in solchen Momenten bewusst?
Im Moment des Ereignisses nicht. Dass es viel schlimmer hätte enden können, wurde uns erst nachher bewusst. Doch jede Sportart birgt ein Risiko. So auch das Segeln, das je nach Kenntnissen, Wetterlage, Kondition und unerwarteten Ereignissen einen an sich harmlosen Moment in einen lange dauernden Kampf verändern kann. Die Frage ist immer, wie du mit diesem Risiko umgehst. Mich jedenfalls hat es nie davon abgehalten, mit dem Segeln weiterzumachen.
Expedition Shackleton: risikoreich und gefährlich
Karin Mulder (82)
Welche Risiken gingen die Menschen vor 100 Jahren auf den Weltmeeren ein? Eine Expedition in die Antarktis unter der Leitung von Ernest Shackleton startete mit der «Endurance», einem Dreimaster, am 8. August 1914 von Plymouth über Südgeorgien in die Antarktis. Ein zweites Schiff, die «Aurora», hatte die gleiche Mission. Man wollte den Südpol zu Fuss erreichen. Anfang Dezember erreichten die Expeditionsteilnehmer die Weddellsee. Es begann sich Eis im Meer zu bilden. Am 14. Februar 1915 sass das Schiff fest. Die Mannschaft hatte aber genügend Vorräte und musste warten, bis das Eis schmolz.

Überall Eisschollen
Doch der südliche Winter ist streng, das Schiff steckte bis Juli fest im Eis. Man muss sich vorstellen, was das für die Mannschaft bedeutete. Die Hoffnung auf wärmeres Wetter war da, aber die Angst wuchs. Die Gefahr, dass die Eisschollen das Schiff eindrücken könnten, wurde täglich grösser. Am 22. Juli presste ein heftiger Sturm die Eisschollen so unter den Kiel, dass das Schiff Schlagseite nach Steuerbord bekam. Noch schlimmer wurde es im Oktober. Da zersplitterte die Bordwand unter dem Druck der sich auftürmenden Eisschollen und bei minus 25 Grad musste das Schiff evakuiert werden. Material und Nahrungsvorräte konnten auf die Eisscholle gebracht und ein Camp errichtet werden.
Das Schiff sinkt
Vor den Augen der Mannschaft versank das Schiff am 21. November 1915 und die grösste Herausforderung war: Wie kommen die Schiffbrüchigen an Land? Als im April 1916 die Eisscholle zu brechen begann, rüsteten sie die Rettungsboote so aus, dass sie durch das Eis in Richtung Elephant Island rudern konnten. Sie hatten Glück und fanden einen Landeplatz bei Point Wild. Aber weit und breit keine rettende Walfängerstation. Die Männer begannen ein Schnee-Camp zu bauen, wo sie Schutz vor der Witterung suchten. Shackleton überlegte, wie er Hilfe holen könnte. Eines der Rettungsboote, nur 6,85 m lang, wurde mit Segeltuch gedeckt, und mit wenigen Vorräten ruderte Shackleton mit sechs Männern los. Einer von ihnen erwies sich als ausgezeichneter Navigator. Die Strapazen waren enorm. Die andern 22 Männer blieben auf Elephant Island zurück.
Schaffen sie es?
Dieses Abenteuer, über 700 Seemeilen zu rudern, dauerte 15 Tage. Die Seeleute waren durchnässt, hungrig und erschöpft, aber sie schafften es! Am 8. Mai 1916 landeten sie an der Südküste von Georgien. Leider befand sich die rettende Walfangstation auf der Nordseite. Das bedeutete eine weitere risikoreiche Kraftanstrengung, einen Fussmarsch über 1000 Meter hohe Berge. Völlig erschöpft erreichten sie die Walfangstation. Dann tat Shackleton alles, um seine Kameraden auf Elephant Island zu retten. Aber es brauchte vier Anläufe, bis am 30. August 1916 die «Velcho», ein chilenisches Schiff, alle 22 Männer retten konnte. Sie sahen furchtbar aus. Sie hatten nur dank Robben und Pinguinen überleben können. Alle hatten es geschafft.
Mich hat es fasziniert, 81 Jahre später mit einem Zodiak auf Elephant Island anzulanden, wo jetzt ein Gedenkstein steht, der an das Geschehen erinnert.