Psychotherapie – Befreiung dank Beziehung
Sehr häufig kommen Menschen aufgrund von Ohnmachtsgefühlen in ein Erstgespräch: Das Leiden ist zu gross geworden. Werner Kaiser hat viele Jahre als Psychotherapeut gearbeitet – mit Einzelnen und mit Gruppen. Ziel einer Therapie ist, wieder in (neue) Handlung zu kommen, erlernte Muster loszulassen und so Blockaden zu beenden. Dafür gibt es keine allgemeingültigen Regeln: Jeder Mensch ist Fachperson für seine eigenen Lösungen.
In der Individualpsychologie nach Alfred Adler ist «Ermutigung» zentral wichtig, damit Menschen wieder handlungsfähig werden. Es genügt aber nicht, einfach zu sagen, «du bist schon gut, du kannst das». Nein – Menschen müssen ihre Ressourcen ganz praktisch, im therapeutischen Kontext und in konkreten Situationen im Alltag erfahren, um neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken.
Werner Kaiser erzählt von einem Jugendlichen, dessen Maturität wegen sehr schlechten Leistungen in Französisch ernstlich gefährdet war und der resigniert hatte. Als er für einmal in einem Diktat nicht ganz so viele Fehler geschrieben hatte wie sonst, gab Werner ihm die Bestnote. Danach schöpfte der Junge wieder Hoffnung und begann zu lernen.
Die Bedeutung der Beziehung
Der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung war Werner ein Herzensanliegen: «Die Beziehung ist wichtiger als jede Methode». Erst auf dieser Basis könne er ehrlich sagen: «Ich traue dir das zu». Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass Therapieerfolge zu gut einem Drittel auf der Qualität dieser Beziehung basiert.
«Die Beziehung ist wichtiger als jede Methode».
Werner Kaiser
Neben dem therapeutischen Gespräch hat Werner auch mit verhaltenstherapeutischen und physischen Methoden gearbeitet. Nur Reden allein habe ihn nie ganz befriedigt. Nicht jede Methode und nicht jeder Therapeut sind für jeden Menschen oder jedes Anliegen gleich gut geeignet – es ist Aufgabe des Therapeuten, einen gangbaren Weg zu öffnen und methodisch flexibel zu bleiben.
Besonders wirksam ist auch die Gruppentherapie, weil dort das soziale Verhalten direkt beobachtet werden kann – oft wird so rasch klar, welche Stolpersteine das Vorankommen behindern. Wer keinen Augenkontakt halten kann, wird schwerlich eine/n PartnerIn finden. Die Gruppe gibt hier direktes und «untherapeutisches» Feedback und das kann jemandem die Augen buchstäblich öffnen!
Leben in einer verrückten Welt
Sowohl als Therapeut wie auch als Mensch mit viel Lebenserfahrung ist für Werner das Thema «Ohnmacht» unglaublich vielschichtig und faszinierend. Wir leben heute in einer verrückten Welt mit grossen Problemen: Klima, Ungerechtigkeit, Kriege. Aber auch im persönlichen Leben sind wir immer wieder mit Krankheit, Verlust und Grenzen konfrontiert, die wir nicht immer bewältigen können. So kann das Ohnmachtsempfinden überwältigend werden. Manchmal reichen therapeutische Methoden nicht aus, um wieder Sinn zu finden. In der Ohnmacht empfinden wir das Leben als sinnlos, grundlegende Werte werden verletzt, wir fühlen uns gefangen. Ohnmacht gehört zum menschlichen Dasein – manchmal finden wir Licht am Horizont und manchmal geht es darum, das nicht Änderbare zu akzeptieren. Für Werner auch eine persönliche Frage: «Kann ich akzeptieren, dass die Welt nicht so ist, wie ich sie mir wünsche? Und dass auch ich nicht immer so bin, wie ich sein möchte?». Jede/r TherapeutIn sollte sich dieser Frage stellen.
«Ohnmacht gehört zum menschlichen Dasein – manchmal finden wir Licht am Horizont und manchmal geht es darum, das nicht Änderbare zu akzeptieren.»
Werner Kaiser
Die Kunst des Lebens besteht wohl zu einem Teil darin, dass wir Ohnmachtsgefühle zulassen, wo wir keinen Einfluss haben. Was wir aber immer ändern können, ist unsere Einstellung gegenüber einer schwierigen Situation, ist ein Perspektivenwechsel. Werner ist überzeugt: «Auch wenn alles unvollkommen ist, schenkt uns das Leben immer wieder sinnvolle Erfahrungen».
Als Therapeut und als Mensch hat Werner stark auf seine Intuition und seine Inspirationen geachtet. Anstatt rational krampfhaft nach Lösungen zu suchen und gegen die Ohnmacht anzukämpfen, lohnt es sich, zur Ruhe zu kommen und auf die innere Stimme zu hören. Oft wird einem auf einer ganz anderen, vielleicht körperlichen oder geistigen Ebene, eine Lösung «geschenkt». Es braucht Offenheit und Zuversicht, eine rezeptive Einstellung, um solche unerwartete Türen aus dem Gefängnis der Ohnmacht zu entdecken.
Und am Ende jeder Therapie braucht es den Mut und den Willen, durch diese Türe zu gehen, die neuen Erkenntnisse und Verhaltensweisen umzusetzen und die neue Freiheit zu geniessen.
Mit Hypnose zu den inneren Ressourcen
Dr. Paolo Giannoni ist diplomierter Hypnosetherapeut VSH und Shiatsutherapeut. Im Interview in seiner Praxis in Thun erzählt er von seiner Arbeit und von der Wirkung der Hypnose. Vorab: «Hypnose ist kein Hokuspokus, sondern eine sehr wirksame, wissenschaftlich begründbare Therapiemethode». Sie basiert auf einer tiefen Entspannung, die derjenigen kurz vor dem Einschlafen ähnlich ist. Wir werden ja sozusagen von Kopf, Herz und Bauch geleitet: Allerdings arbeitet unser Gehirn im Wachzustand meist auf Hochtouren und der Verstand übertönt die beiden andern. Im Schlaf ist die Hirnfrequenz hingegen tief. Während der Hypnose liegt sie irgendwo zwischen Wachsein und Schlaf. In diesem Zustand ist das rationale Denken gedämpft, trotzdem sind wir wach und können auch jederzeit wieder «auftauchen».
«Hypnose ist kein Hokuspokus, sondern eine sehr wirksame, wissenschaftlich begründbare Therapiemethode».
Paolo Giannoni
Durch die tiefe Entspannung haben wir einfacher Zugriff auf unser Unbewusstes, eine Welt, die uns im Alltag oft nicht zugänglich ist und wo viele Ressourcen brachliegen. Hier lässt sich die Ohnmacht in «Ermächtigung» umprogrammieren. Wir erleben uns ganz stark und sind ganz bei uns.
Die Macht des Unbewussten nutzen
In der ersten Sitzung bespricht Paolo Giannoni mit seinen KlientInnen jeweils deren Anliegen, den Kontext, wo sie die Ohnmacht erfahren und wie sich diese äussert, wie sie sich stattdessen fühlen möchten und was sich in ihrem Leben damit ändern würde. Diese Informationen reichen aus, um mit der Hypnose zu beginnen.
Wenn sich der/die KlientIn darauf einlassen mag, folgt die Entspannungsanleitung und die Reise zu den inneren Kräften kann beginnen. Während der Hypnose fährt der Körper herunter, die Sprache wird langsam, wir konzentrieren uns ganz auf unseren Kern und das Innere kann sich äussern. Nun gilt es, eigene Ressourcen zu finden. Durch das Beantworten von Fragen wie: «Wann haben Sie sich schon mal in der Macht gefühlt? Wie hat sich das konkret angefühlt?» können die KlientInnen ihre Ohnmacht in ihrem Ursprung aufspüren und dank ihren eigenen, oft unbewussten Ressourcen auflösen. Während der fragenden, stützenden Begleitung durch den Therapeuten gelingt der Zugang zum innersten Wissen. Das Gefühl der Ermächtigung wird verankert und mit ins Wachbewusstsein genommen. Später ist es dann möglich, mittels Selbsthypnose dieses Gefühl immer wieder hervorzuholen und in kritischen Situationen zur Stärkung zu nutzen. Nach einer Hypnosesitzung fühlen sich Menschen oft «wie neugeboren». Das ist typisch für die starke Wirkung des Unbewussten: plötzlich ist die Lösung da, auch bei Verletzungen, die oft jahrelang herumgetragen wurden.
Vom Wert der kleinen Dinge
Paolo Giannoni hat den Eindruck, dass sich junge Menschen eher ohnmächtig fühlen als alte. Das liegt nicht nur an der fehlenden Lebenserfahrung, sondern auch an unserer Zeit: Tempo, Social Media, Weltprobleme … Junge fühlen sich überfordert, zweifeln an ihrem Selbstwert und haben das Gefühl, angesichts all der Probleme in der Welt nichts ausrichten zu können und nicht gebraucht zu werden. Auch mangelt es ihnen oft an sinnerfüllenden Strukturen oder sie wollen alles sofort haben. Dies führt zum Gefühl der Ohnmacht. Die kleinen Dinge, die kleinen Erfolge würdigen viele Junge zu wenig. Paolo Giannoni ist überzeugt: «Jedes Lächeln verändert die Welt». Dessen sind sich die Älteren vielleicht etwas bewusster, sie verfügen über mehr Gelassenheit. Auch Therapeuten fühlen sich manchmal ohnmächtig.
«Jedes Lächeln verändert die Welt».
Paolo Giannoni
Dank Hypnose und Selbsthypnose stehen Paolo in eigenen schwierigen Situationen starke Anker zur Verfügung. Damit kann er beispielsweise vermeiden, sich in sinnlose Konflikte hineinzusteigern. «In angstauslösenden Situationen hilft mir auch die Konzentration auf meine Atmung.» ☐
Mit Selbstverteidigung und Kampfsport gegen die Ohnmacht
Ruby Wildhaber ist Trainerin und Kampfsport-Coach, eine junge, aufgestellte und klare Frau. Sie ist mit dem Ohnmachtsgefühl ihrer Klientinnen häufig konfrontiert. Ihr Ziel ist es, Selbstbewusstsein zu stärken, Selbstbehauptung zu fördern und Selbstverteidigung zu erlernen. Doch auch sie selbst schützt sich präventiv davor, um auch in Stresssituationen handlungsfähig zu bleiben. Dabei helfen ihr der Kampfsport und die Arbeit mit der Psyche. Sie erzählt, was sie in ihrem Berufsalltag zum Thema Ohnmacht bewegt und auch motiviert. Ihr ist wichtig, nach einem Ohnmachtsgefühl wieder ins Handeln zu kommen, im Hier und Jetzt zu sein und Psyche und Physis wieder miteinander zu vereinen. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, achtsam mit den eigenen Gefühlen umzugehen und auf das Bauchgefühl zu hören. Um aus der Ohnmachtsfalle wieder herauszukommen, gibt es Basistechniken, die man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen kann.
Vor allem auch die Atmung ist in einer hohen Stresssituation besonders wichtig. Ruby berichtet von Aha-Erlebnissen und Einsichten ihrer Klientinnen, welche für jeden und jede wertvolle Botschaften sind: «Ich bin stark und habe eine Stimme. Diese darf und kann ich einsetzen» oder «Ich kann etwas machen. Ich bin nicht machtlos.»
Ruby vermittelt die Ansicht, dass Stresssituationen einerseits körperlich, andererseits mental überwunden werden können (und müssen). Die Kombination aus beiden Elementen bietet einen sichereren Umgang mit dem Gefühl der Ohnmacht. Schliesslich ist die Ohnmacht ein Teil des Lebens, der uns immer wieder einmal begegnet.
Dabei kommt es darauf an, was daraus gemacht wird. Weil: «Wir können und dürfen etwas machen».
Rubys Tipps
- Tief in den Bauch atmen
- Meine Stärke spüren
- Stabiler Stand
- Positive Affirmation
- Riechen von intensiven Gerüchen
- Spüren von Textilien und unterschiedlichen Oberflächen
Befreiung dank psychiatrischer Begleitung und Humor
Dr. Ulrich Böhnke begegnet und begleitet Kinder und Jugendliche in schweren Phasen. Derzeit leitet er den Modellversuch «at_Home». At_Home ist eine aufsuchende psychiatrische Akutbehandlung für Kinder und Jugendliche. Er geht seine Patienten und Patientinnen daheim in ihrem Umfeld besuchen. Ulrich sieht das Ohnmachtsgefühl als ein Gefühl, das zum Menschsein dazugehört. Egal in welcher Rolle eine Person steckt, ob als Eltern, StudentIn oder TherapeutIn, begegnet einem die Ohnmacht immer wieder. In seiner Arbeit ist es für Ulrich sehr hilfreich, das Gespräch zu suchen, um aus der Ohnmacht zu kommen. Ins Gespräch zu gehen reduziert schnell die Macht des Ohnmachtsgefühl, obwohl sich an der Situation erstmal noch nichts geändert hat, aber es löst bereits den eingeengten Blick auf etwas. Einen eingeengten Blick zu haben ist eine Grundeigenschaft von Ohmachtsgefühlen.
Ulrich nimmt wahr, dass der Austausch hilft, den Blick aus der Enge zu befreien und diesen wieder zu erweitern. Gelingt es, in einem Gespräch, Humor und gemeinsames Lachen einzubauen, wird das Ohnmachtsgefühl plötzlich ganz klein, was ihn immer wieder erfreut. Er sieht diese Erfolge bei KlientInnen und deren Familien.
«Das Gespräch hilft, den Blick aus der Enge zu befreien und diesen wieder zu erweitern».
Ulrich Böhnke
Egal in welcher Rolle wir stecken, das Gefühlserleben im Austausch mit anderen zu reflektieren und zu akzeptieren ist bereits hilfreich, bevor man in die Ohnmacht hineingerät.
Hilfreiche Tipps
Aufgrund unserer unterschiedlichen Einblicke zum Thema der Ohnmacht stellen wir fest, dass das Ohnmachtsgefühl zum Menschsein dazu gehört. Es gibt nicht nur einen Weg, um aus der Ohnmacht zu kommen. Jede und Jeder muss für sich seinen Weg finden. Dabei ist auch eine Kombination unterschiedlicher Ansätze hilfreich.
- In Stresssituationen auf die Atmung achten
- Das Gedankenkarussell unterbrechen, durch Bewegung, Gespräche, Entspannung
- Bewusstes Training und Repetition unterschiedlicher Techniken
- Das Bauchgefühl beachten und wahrnehmen
- Und nicht vergessen: JedeR von uns fühlt sich einmal ohnmächtig und kann somit mitfühlend reagieren, wenn jemand Hilfe sucht.
Danke für den wunderbaren Bericht zum Thema Ohnmachtsgefühle. Der Text hat mich sehr angesprochen und ich finde auch die angefügten Hilfestellungen wertvoll. Lieber Gruss Christine