Tabea: Was meinst du, warum betrügen Menschen bei sozialen Versicherungen?
Werner: Es muss klar gesagt sein: Es sind wenige, die betrügen. Unvergleichlich weniger als jene, die Steuern hinterziehen. Versicherungsbetrug geschieht aus ganz unterschiedlichen Motiven. Da gibt es Leute, die wollen einfach auf Kosten der Allgemeinheit profitieren. Solche gibt es immer und überall. Ein Motiv kann sein, das knappe Budget aufzubessern. Wie erlebst du die jetzige Diskussion über das Thema?
Tabea: Ich finde es gut, dass das Referendum ergriffen wurde und wir über ein so wichtiges Thema abstimmen können. Ein neues Gesetz ist nötig, denn bis jetzt war die gesetzliche Grundlage für eine Observation durch die Versicherungen nicht gegeben. Mir ist es wichtig, dass es eine Möglichkeit gibt, Missbrauchsfälle aufzudecken. Was meinst du, Werner, ist dieses Gesetz der richtige Weg, um sicherzustellen, dass Gelder der staatlichen Versicherungen fair und gerecht verwendet werden?
Werner: Natürlich braucht es ein Gesetz. Natürlich müssen die Versicherungen sich gegen Betrug absichern können. Aber je nachdem, wie das Gesetz ausgelegt wird, können mir bald alle zum Fenster hereinschauen. Ich finde es absurd, dass unser sonst so langsames Parlament in kürzester Zeit ein Gesetz zustande brachte, das nur dem Populismus der Rechtsparteien Genüge tut. So ein Gesetz hilft wenig und verstärkt das unberechtigte Misstrauen den Versicherten gegenüber.
Tabea: Laut Bundesrat sollte es nicht möglich sein, jemanden in seinem Schlafzimmer zu beobachten. Das Abhören und das Beobachten von Leuten in ihrem Garten und auf ihrem Balkon ist nur möglich, wenn der Detektiv sich auf öffentlichem Grund befindet – zum Beispiel auf einem öffentlichen Parkplatz. Natürlich erleichtert es einiges, ohne richterliche Anordnung Verdachtsfälle observieren zu dürfen. Doch das öffnet auch Tore für Missbrauch. Jeder von uns könnte davon betroffen sein. Stehen wir dann alle unter Generalverdacht? Jeder Prämienzahler kann auch zum Bezüger von Versicherungsleistungen werden. Was denkst du, Werner, was wird diese Initiative für einen Einfluss auf die Solidarität haben?
Werner: Dass der finanzielle Missbrauch generell vor allem bei den Reichen zu finden ist, wird unterschlagen. Steuerflüchtlinge werden in der Schweiz heute immer noch vor den Steuerbehörden geschützt. Da gibt es keine Spione! Es geht nicht um ein Entweder-Oder. Betrug ist Betrug, er muss verhindert und geahndet werden. Ich schäme mich, dass gemäss einer Umfrage offensichtlich 65 Prozent der Bevölkerung diese Initiative unterstützen. Der Sinn für soziale Gerechtigkeit scheint zu schwinden.
Tabea: Versicherungsmissbrauch darf nicht wiederum mit Missbrauch bekämpft werden. Das neue Gesetz will Behördenwillkür erlauben, die eines Rechtsstaats nicht würdig ist. Vorgehensweisen von Privatdetektiven, teilweise aus dem Bereich privater Sicherheitsfirmen, werden nicht beaufsichtigt. Sowohl Detektive als auch die Versicherungen haben eigentlich kein Interesse an einer vorurteilslosen und objektiven Überwachung.
Werner: Das Problem bei Abstimmungen ist, dass wir einfach Ja oder Nein sagen müssen. Um wirklich unsere Meinung ausdrücken zu können, müssten wir sagen können: Ja, wir wollen ein Gesetz, das vor Missbrauch schützt. Aber wir wollen keine Observationen durch Private, die niemand kontrolliert. ☐
Im Generationentalk am 31. Oktober um 19 Uhr diskutieren Dimitri Rougy, der Mann hinter dem Referendum, und die CVP-Nationalrätin und Befürworterin des Gesetzes Ruth Humbel im Berner Generationenhaus: www.und.gt/talk/detektive
Worum geht’s?
Wer Beiträge aus den staatlichen Sozialversicherungen bezieht, wird in der Schweiz schon länger überwacht. Im Oktober 2017 beanstandete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gebe. Darauf wurde ein entsprechendes Gesetz in Rekordtempo von den eidgenössischen Räten verabschiedet.
Dagegen wurde von einer Gruppe um die Schriftstellerin Sibylle Berg und den Aktivisten Dimitri Rougy das Referendum ergriffen, unterstützt von der SP – die zunächst zögerte –, den Grünen, Travail.Suisse sowie Behinderten- und Seniorenorganisationen.
Das Gesetz erlaubt es Versicherungsträgern, bei Verdacht auf Betrug verdeckt zu überwachen. Bedingung ist, dass es von einem allgemein zugänglichen Ort aus geschieht. Gerichtliche Bewilligung braucht es nur, wenn technische Bild- und Tonaufzeichnungen benutzt werden.
Es gibt effektiv Betrug in diesem Bereich. Im Jahr 2017 hat die Invalidenversicherung bei 2130 von 432‘000 BezügerInnen wegen Betrugsverdacht ermittelt. In 170 Fällen wurde Betrug festgestellt. Die Aufdeckung der Betrugsfälle brachte Einsparungen von 60 Millionen Franken ein. 1,3 Millionen kostete die Überwachung. wka/tar