Begegnung mit Esther Pauchard
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Was heisst es heute, psychisch gesund zu sein – in einer Welt, die zwischen Selbstverwirklichung, Überforderung und Diagnoseboom schwankt? Wann ist man einfach überfordert, und wann wirklich krank? Und was brauchen wir eigentlich: mehr Hilfe – oder mehr Zumutung?
Diesen Fragen stellte sich die Psychiaterin und Autorin Esther Pauchard (52) am 3. April 2025 in der Kirche Glockental im Rahmen der Veranstaltung «Begegnung mit…» vor etwa 120 Interessierten – nicht mit fertigen Antworten, sondern mit Witz, Tiefgang und der Bereitschaft, auch mal gegen den Strom zu denken. Eingeladen hatte UND Generationentandem in Zusammenarbeit mit der reformierten Kirchgemeinde Steffisburg und das Psychiatrische Zentrum für junge Erwachsene (PZJE). Durch den Abend führte Elias Rüegsegger (30), der als Moderator weniger moderierte als neugierig nachhakte – und damit genau den Ton traf, den dieses Gespräch brauchte.

Warum junge Erwachsene besondere
Aufmerksamkeit brauchen
Jana Schlupp, Stationspsychologin am PZJE in Thun, stellte vor dem Gespräch mit Esther Pauchard dar, warum psychische Gesundheit im jungen Erwachsenenalter besonders sensibel ist: Drei von vier psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr. Gleichzeitig fehlt es an passgenauen Angeboten für diese Altersgruppe.
Adoleszenz heisst Umbruch: Identität, Beziehungen, Ausbildung, Körper – alles im Wandel. Wer in dieser Phase keine Orientierung und Unterstützung findet, läuft Gefahr, in eine langfristige Krise zu rutschen. Das PZJE will hier ansetzen – mit alltagsnaher Behandlung, kreativen Methoden und dem Ziel, Selbstwirksamkeit statt Abhängigkeit zu fördern.

Krankheit zwischen Belastung und Belohnung
Ein Zitat aus Esther Pauchards aktuellem Buch Baustelle Mensch sein sorgt gleich für gespitzte Ohren: «Krank und bedürftig zu sein bringt uns viele Vorteile, besonders in einer sozialen Gesellschaft wie der Schweiz.» Die Berner Zeitung machte daraus kurzerhand die Schlagzeile: «Manche finden es attraktiver, krank zu sein.» Ein Satz, der klickt – aber auch falsch verstanden werden kann. Was auf den ersten Blick provokant klingt, entpuppt sich im Gespräch als ernstgemeinte Beobachtung: In einer Gesellschaft, die Fürsorge hochhält, kann auch das Kranksein zur sozialen Währung werden – mit Aufmerksamkeit, Schonung und weniger Erwartungen als unbeabsichtigte «Belohnung».
«Das ist nicht zynisch gemeint», sagt Esther Pauchard, «aber es ist ein Teil der Realität.» Sie spricht vom sogenannten sekundären Krankheitsgewinn – einem Begriff aus der Psychologie, der erklärt, warum es manchmal schwerfällt, gesund zu werden: weil das Kranksein selbst etwas gibt, das fehlt.
«Zu viel Schonung macht krank»
In Esther Pauchards Welt ist psychische Gesundheit keine heilige Kuh, sondern ein Muskel, der Training braucht. Ihre Haltung: Wir dürfen Hilfe annehmen – aber nicht alles outsourcen. Sie erzählt von Jugendlichen, die beim kleinsten Windstoss nach einem Attest fragen, und von Eltern, die jedes Hindernis aus dem Weg räumen wollen. Dann ihr Satz, halb Lacher, halb Leitsatz: «Zu viel Schonung, Entlastung und Verständnis macht krank.»
«Zu viel Schonung, Entlastung und Verständnis macht krank.»
Esther Pauchard
Esther Pauchard will keine Härte predigen – aber auch keine Watte. Sie spricht von psychischen Immunkräften, die nur wachsen, wenn man sie benutzt. «Früher war der Weg klar. Heute gibt es hundert Optionen – und viele junge Menschen wissen gar nicht, was sie wollen. Kein Wunder, dass man da mal innerlich abstürzt.»

Normal überfordert oder schon behandlungsbedürftig?
Was Esther Pauchard besonders beschäftigt, sind jene, die knapp unter der Diagnosegrenze liegen: nicht krank genug für einen Therapieplatz, aber auch nicht stabil. Viele kämpfen mit Überforderung, Angst, Einsamkeit – ohne «richtige» Diagnose.
«Nicht jede Gefühlsachterbahn braucht einen ICD-Code»
Esther Pauchard
«Wut, Unsicherheit, Frust – das gehört zum Leben», sagt sie. Doch weil psychische Gesundheit inzwischen ein grosses Thema ist, drohe schnell die Pathologisierung. «Nicht jede Gefühlsachterbahn braucht einen ICD-Code», meint sie trocken. Stattdessen: hinschauen, aushalten, handeln. Und handeln heisst für sie auch: selbst etwas tun, nicht nur Hilfe erwarten. «Lösungen sind kein Produkt, sondern ein Prozess.» Ein Lieblingssatz aus ihrem Buch.
Glaube, Ohnmacht und die Kraft des Nicht-Tuns
Im Gespräch mit Michael Grundbacher von der reformierten Kirchgemeinde Steffisburg sprach Esther Pauchard über die Rolle von Spiritualität in psychischen Krisen. Glaube könne dann wichtig werden, wenn Worte und Diagnosen nicht mehr reichen – etwa in Momenten von Tod, Kontrollverlust oder tiefer Ohnmacht. Sie zitierte sinngemäss Lukas Fries-Schmid: «Wenn ich Ohnmacht verspüre, weiss ich, dass ich selbst nicht genug bin – und nicht genug sein muss.»
In der Therapie, sagt Esther Pauchard, sei es oft heilsamer, nicht sofort zu handeln, sondern einfach präsent zu bleiben. Auch Seelsorge habe in ihrem Berufsleben immer wieder eine wichtige Rolle gespielt – als niedrigschwellige, persönliche Begleitung, die da ansetze, wo Therapie an Grenzen stosse: bei Sinnfragen, Abschied, existenziellen Themen. «Das kann Medizin nicht», sagt Esther Pauchard. «Oder sie dürfte es können – aber es ist viel zu wenig Thema.»
Vom Trotz zur Berufung
Wer glaubt, Esther Pauchard sei zielstrebig zur Psychiatrie gekommen, irrt. «Ich habe das Fach aus Trotz gewählt – weil ich vorher für Innere Medizin abgelehnt wurde», erzählt sie. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick – aber dann eine tiefe Beziehung.
«Man kann nicht alles retten – und das muss man auch nicht.»
Esther Pauchard

Sie spricht offen über eigene Krisen, über ihre körperliche Behinderung, über den Brustkrebs, den sie überstanden hat – und darüber, wie diese Erfahrungen sie als Therapeutin verändert haben. Mehr Verständnis, mehr Menschlichkeit. Aber auch mehr Klarheit: «Man kann nicht alles retten – und das muss man auch nicht.»
Zwischen Klartext und Komplexität
So zugänglich, präzise und pointiert Esther Pauchards Aussagen über individuelle Verantwortung, Diagnosen oder Erziehungsfragen waren – bei systemischen Themen blieb sie zurückhaltender. Als Moderator Elias Rüegsegger etwa auf strukturelle Engpässe im Gesundheitssystem, fehlende Therapieplätze oder die politische Verantwortung für psychische Gesundheitsversorgung zu sprechen kam, wich Esther Pauchard auf eher allgemeine Beobachtungen aus. Auch bei der Frage, wo genau die Grenze zwischen Eigenverantwortung und Überforderung verlaufe, blieb es bei skizzenhaften Andeutungen. Das Gespräch kippte hier nicht ins Unkonkrete – aber es öffnete sich. Konkrete Antworten? Fehlanzeige.
Vielleicht ist das auch legitim: Esther Pauchard ist Ärztin und Autorin, nicht Gesundheitspolitikerin. Die grossen, systemischen Fragen überlässt sie anderen – nicht, weil sie unwichtig wären, sondern weil sie nicht zu jeder Frage eine Antwort liefern will oder muss. Was bleibt, ist ein Spannungsfeld: zwischen persönlichem Appell und gesellschaftlichem Auftrag. Und der Eindruck, dass genau hier noch viele Gespräche nötig sind.
Therapie, Gemeinschaft und ein bisschen Globi
Trotz offener Fragen blieb etwas haften: Esther Pauchards tiefer Glaube an die Gestaltungsfähigkeit des Einzelnen – und an die Kraft der Gemeinschaft. Gegen Ende des Abends wurde der Ton weicher, der Blick weiter. Die Frage stand im Raum: Was können wir tun – als Einzelne, als Gesellschaft? Esther Pauchards Antwort war einfach und doch tiefgründig: «Wir brauchen Gemeinschaft. Aber auch Eigenverantwortung. Psychotherapie ersetzt kein tragendes Umfeld – und umgekehrt.»
Sie plädiert für eine Kultur, in der Scheitern nicht stigmatisiert wird. Für Eltern, die nicht perfekt sein müssen, sondern «auf dem Weg». Für Kinder, die erleben dürfen, dass das Leben manchmal zwickt. Und für Erwachsene, die das eigene Leben nicht wie ein Projekt verwalten, sondern wie eine Geschichte gestalten – mit Höhen, Tiefen, und vielleicht sogar einem Happy End.
Zum Schluss verrät sie noch, dass sie lieber Globi mag als Elon Musk – und dass ihr Motto heute lautet: «Sowohl als auch.» Denn entweder-oder, das überlässt sie anderen.

Ich gratuliere Elias in seiner Funktion als Moderator des Gesprächs mit Esther Pochard: lebendig, sympathisch und kreativ – kurzum: gekonnt ! Mach so weiter. Herzlich: Ruedi