Barbara: Zoé, du und ich gehören zu den glücklichen Frauen, denen das Stimmrecht in die Wiege gelegt wurde. In Polen, meiner Heimat, wurde das Frauenstimm- und Wahlrecht 1918 eingeführt. Abstimmen zu gehen war also für mich selbstverständlich. Wie ist es für dich und deine Gleichaltrigen?
Zoé: Auch für mich und die jungen Frauen meiner Generation ist es selbstverständlich, dass wir unsere Meinung an der Urne einbringen können. Wieso sollte es auch anders sein? Mir fällt kein plausibles Argument ein, das Frauen ihr Stimm- und Wahlrecht absprechen könnte. Umso mehr war ich geschockt, als ich erfuhr, dass Frauen in der Schweiz erst seit ca. 50 Jahren über dieses Recht verfügen. Meiner Grossmutter war es noch untersagt, aktiv das politische Geschehen mit zu beeinflussen. Sie wurde ausgeschlossen von wichtigen Entscheiden, die sie ebenso betrafen wie ihre männlichen Mitbürger. Noch mehr schockierte mich aber die Tatsache, wie lange die Schweizer Frauen kämpfen mussten, um das Stimmrecht – ein so fundamentales Recht – zu erhalten!
Barbara: Tatsächlich, die Schweizer Frauen kämpften über 100 Jahre lang dafür. Immer wieder wurde ihre Forderung nach Gleichberechtigung von den männlichen Parlamentariern schlichtweg nicht ernst genommen und als ausländisches Revolutionsgewächs oder belanglose Modesache abgetan. Und überhaupt sei dies keine Sache der Frauen, sondern Angelegenheit spitznasiger alter Jungfern (die offenbar in ihren Augen keine weiblichen Wesen waren). Stell dir vor, dass ich genau sowas im Vorfeld der Abstimmung über den Verfassungsartikel in Zürich 1981 gehört habe. Ich war damals zum ersten Mal in der Schweiz und konnte es nicht fassen, dass jemand eine solche Meinung äussern konnte. Zudem passte die Tatsache, dass Schweizer Frauen gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch kein Stimmrecht hatten, gar nicht zu meinem Bild von einem Land, das sich rühmte, die älteste Demokratie in Europa zu sein.
Zoé: Während dem ersten Weltkrieg engagierten sich Frauenrechtlerinnen in ganz Europa in gemeinnützigen Tätigkeiten, so auch in der Schweiz. Mit ihrem Einsatz wollten sie sich als Staatsbürgerinnen beweisen, in der Hoffnung, mit dem lang ersehnten Frauenstimmrecht belohnt zu werden. «Pflichten erfüllen heisst Rechte begründen», so die bürgerliche Berner Frauenrechtlerin Emma Graf. Diese Ansicht vertraten aber nicht alle. Das Frauenstimmrecht bedürfe keiner Vorleistungen und sei nicht Ziel, sondern Mittel im Klassenkampf, wurde von der sozialistischen Fraueninternationalen dagegengehalten. Trotz der Meinungsverschiedenheiten gab es auf lokaler Ebene Verbindungen zwischen Vertreterinnen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung. Sie erkannten, dass nur Solidarisierung über ideologische Trennlinien hinweg sie ans Ziel bringen würde. Denn schlussendlich zogen sie ja am selben Strang.
Alle Erwartungen der Frauen wurden für Jahrzehnte niedergeschmettert und ihre Anliegen landeten zuunterst in den parlamentarischen Schubladen.
Barbara Tschopp
Barbara: Ja, und einstimmig traten sie für die Frauenrechte ein. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges führten viele Länder das Frauenstimmrecht ein. Wie konnte es da anders sein in der Schweiz? In den Schweizer Frauenzeitschriften aus jener Zeit ist ein zaghafter Jubel voller Hoffnung zu spüren: Es kommt! Es muss kommen! Doch trotz diesen Erwartungen hatten sich der Nationalrat und die Bundesversammlung die alte Auffassung zu eigen gemacht, das Frauenstimmrecht müsse von unten nach oben eingeführt werden, zuerst in den Gemeinden, dann in den Kantonen und zuletzt auf Bundesebene. Alle Erwartungen der Frauen wurden für Jahrzehnte niedergeschmettert und ihre Anliegen landeten zuunterst in den parlamentarischen Schubladen.
Zoé: Und dann kamen die jungen 68erinnen. Sie kritisierten, eine Bewegung, die nur das Stimmrecht verlange, sei nicht sinnvoll, da es um eine umfassende Gleichberechtigung gehe. «Wir stehen hier nicht als Bittende, sondern als Fordernde», liessen sie verlauten und stellten damit die bisherigen Strategien der Frauenorganisationen infrage. Als 1971 dann endlich das Stimm- und Wahlrecht eingeführt wurde, hatte für den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung gerade erst das zweite Kapitel begonnen. Erst der landesweite Frauenstreik 1991 übte den nötigen politischen Druck aus, so dass 1995 endlich das Gleichstellungsgesetz verabschiedet wurde. Dieser Streik wurde von Verbänden und Organisationen bis hin zu kleinsten Gruppierungen mitgetragen. Sie kämpften für den Mutterschaftsurlaub, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, geschlechtergerechte Sprache. Sie setzten sich ein für Lohngleichheit und wehrten sich gegen Sexismus und häusliche Gewalt. Kurz: die Befreiung vom Patriarchat – ein Kampf, der bis heute andauert und wohl noch viele nachfolgende Generationen von Frauen beschäftigen wird.
Ich bin ganz deiner Meinung; setzen wir ein Zeichen! Ganz im Sinne der 68igerinnen: nicht bittend, sondern fordernd.
Zoe Kammermann
Barbara: Trotz der Inkraftsetzung des Gleichstellungsgesetzes blieben strukturelle Ungleichheiten und Diskriminierungen bis heute. Die Erfahrungen der Frauenbewegung zeigen, dass positive Veränderungen nur mit einem politischen Druck, gepaart mit Solidarität und einem langen Atem erreicht werden. 1991 stellten die Schweizerinnen fest, dass sich in den 10 Jahren nach der Verankerung der Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung weder die Löhne noch die Arbeitsbedingungen verbessert hatten. Das Signal zum Streik gaben Frauen aus der Uhrenindustrie, wo damals der Lohnunterschied für gleiche Arbeit bei 40 Prozent lag. Laut der neusten Umfrage des Bundesamtes für Statistik können die Lohnunterschiede je nach Geschlecht in allen Berufen und auf allen Ebenen bis 20 Prozent betragen; die Gewalt gegen Frauen dauert an; es fehlen bezahlbare Kinderbetreuungsangebote und Teilzeitstellen, welche Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen; patriarchale Strukturen scheinen unerschütterlich zu sein. Das sind Gründe genug, um erneut zu streiken. Am 14. Juni 2019 findet deshalb ein nationaler Frauenstreik statt unter dem Motto: Lohn, Zeit, Respekt! Der 14. Juni soll deutlich zeigen, dass sich die Schweizer Frauen nicht länger mit dem Stand der Dinge zufrieden geben und dass es mit der Gleichstellung vorangehen muss.
Zoé: Ich bin ganz deiner Meinung; setzen wir ein Zeichen! Ganz im Sinne der 68erinnen: nicht bittend, sondern fordernd. 1991 gab es noch keine Handys, heute schon. Die Digitalisierung ermöglicht es uns, eine viel grössere Anzahl von Menschen zu erreichen, was eine unglaubliche Chance ist. Diese Chance sollten wir nutzen, finde ich.
Ich denke, wir jungen Frauen können viel von den Frauen lernen, die uns den Weg geebnet haben. Sie haben sehr viel Mut und Durchhaltewille bewiesen. Was für mich heute selbstverständlich ist, haben sie hart erkämpft. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Auch du warst 1991 am nationalen Streik mit dabei, Barbara. Welche Erinnerungen sind dir von diesem Tag geblieben?
Barbara: Der 14. Juni 1991 war ein sehr schöner, sonniger Tag. Obwohl der Streik eine politisch ernste Angelegenheit war, herrschte eine fröhliche Stimmung. In Bern schwebten hunderte lila Ballons am Himmel. Die Demonstrierenden trugen Transparente mit zum Teil lustigen Parolen voller Wortspiele, zum Beispiel «Lieber gleichberechtigt als später». Am meisten Eindruck hat auf mich aber die Phrase «Wir streiken auch für diejenige, die sich nicht leisten können zu streiken» gemacht. Viele Arbeitgeber hatten mit Entlassungen für die Teilnahme am Streik gedroht. Als zur Kundgebung auf dem Bundesplatz eine Unmenge Polizisten in voller Montur anrückte, schreckte mich der Gedanke auf: «Werden sie uns schlagen?». Doch die mit Schildern und Stöcken Ausgerüsteten wurden von den lächelnden Streikerinnen mit Blumen beschenkt. Es passierte nichts Schlimmes.
An diesem Tag und bei vielen Gelegenheiten später wurden Worte der ersten Luzerner Ständerätin, Josi Meier, zitiert: «Vor 20 Jahren wollte man uns zurückhalten mit dem Slogan: Die Frau gehört ins Haus. Wir brauchten Jahre, bis wir diesen Satz verstanden hatten. Natürlich gehören wir ins Haus: ins Gemeindehaus, ins Bundeshaus».
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit war beflügelnd. Dasselbe wünsche ich den Streikenden am diesjährigen 14. Juni. Ich werde auch diesmal dabei sein. Ich möchte meine Solidarität mit der jüngeren Generation sichtbar machen. Ich werde streiken für meine Tochter, für dich, Zoé, für meine jungen UND-Freundinnen… Und für mich selber. Denn bekanntlich sind nicht nur diejenigen schuld an der Misere, die Unrecht tun, sondern auch alle, die sich nicht dagegen erheben.
Programm des Frauenstreiks in Thun.
Was läuft am 14. Juni 2019? In der ganzen Schweiz wird es Aktionen, Arbeitsniederlegungen, Protestpausen, Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Flashmobs und vieles mehr geben. Der Frauenstreiktag hat kein festes Programm, sondern jede Gruppe, jede Region, jeder Betrieb, jede Einrichtung entscheidet selbst, was sie macht. Viele werden um 11 Uhr und/ oder um 15.30 Uhr ein Zeichen setzen, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit. An vielen Orten wird es am frühen Abend eine Demonstration oder Versammlung geben – es gibt keine nationale Demonstration, sondern Aktivitäten in der ganzen Schweiz.