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Um 18.55 Uhr werden auch die Holzklappstühle knapp: Etwa 250 Menschen verfolgen am Mittwoch, 27. April 2022 live vor Ort im Gymnasium Thun, Standort Schadau, das Politpodium von UND Generationentandem.
Zwei Stunden zuvor fährt das Referendumskomitee von «No Frontex» mit einem orange tapezierten Bus vor. Mit dabei: Seenotretterin und Kapitänin Carola Rackete. 2019 wurde sie weltweit bekannt, als sie 53 Menschen vor der libyschen Küste aus Seenot rettete und während Tagen keinen Hafen anlaufen durfte. Zur Unterstützung des Referendums weilt sie im Moment in der Schweiz.

Bild: Victor Keller
An diesem Abend dreht sich am Gymnasium Thun alles um Frontex. Die Agentur für Grenz- und Küstenwache ist bekannt und umstritten. Medien dokumentierten, dass Flüchtende an den Aussengrenzen zum Teil unmenschlich behandelt werden. Dafür machen AktivistInnen in ganz Europa Frontex mitverantwortlich. Die EU will Frontex massiv ausbauen. Und die Schweiz? Bundesrat und Parlament wollen, dass die Schweiz mitmacht und sich finanziell und personell stärker beteiligt. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, so dass die StimmbürgerInnen darüber entscheiden können.

Bild: Victor Keller
Das Podium mit internationaler Beteiligung
– Carola Rackete (33) ist freiwillige Seenotretterin
und Naturschutzökologin.
– Julia Küng (21) ist Co-Präsidentin der Jungen Grünen Schweiz.
– Professor Thomas Cottier ist Professor für europäisches
und internationales Wirtschaftsrecht und Präsident
von «Die Schweiz in Europa».
– Roger Nyffenegger (29) ist Co-Präsident der jungen GLP
Kanton Bern.
Meinungen zu Frontex
«Haben sie die 130-seitige Gesetzesvorlage zu Frontex gelesen?», fragt Thomas Cottier zweifelnd in die Runde. Er selbst hat den Eindruck, dass viele Fortschritte gemacht und aus Fehlern gelernt wurde. «Von der Rechtsgrundlage her ist diese Vorlage in Ordnung.»
Allen ist bewusst, dass die Realität oft anders aussieht. Carola Rackete ordnet die Situation wie folgt ein: «Frontex setzt eine rassistische Grenzpolitik durch. Menschen aus der Ukraine können reinkommen, Menschen aus Syrien, die vor denselben russischen Bomben fliehen, dürfen nicht reinkommen.» Julia Küng ist einverstanden: «So wie Frontex heute existiert, schadet es mehr, als es nützen kann.»

Wie kann die Schweiz etwas bewirken?
Niemand könne mit der Arbeit von Frontex zufrieden sein, sagt Roger Nyffenegger und meint damit die Menschenrechtsverletzungen. Die Frage sei allerdings, was wir damit machen. «Bleiben wir dabei und verbessern wir die Grenzschutzbehörde oder stehlen wir uns aus der Verantwortung und profitieren davon?»
Dieses Argument erstaunt Julia Küng, weil die Schweiz ja bereits versucht hätte, Frontex zu kontrollieren und verbessern: «Das Problem dabei ist, dass Frontex so geschaffen ist, dass das bis jetzt nicht möglich ist. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir mit den gleichen Ansätzen weiterkommen.»

glaubt nicht an Besserung bei Frontex. – Bild: Julia Küng
Carola Rackete unterstützt diese Meinung: «Mit Frontex sind wir an die Grenzen der Kontrollmöglichkeiten gekommen, die wir in der EU haben. Die Kontrollmechanismen funktionieren überhaupt nicht», betont die Aktivistin. «Wir wissen, dass Frontex Menschenrechtsverletzungen systematisch verdeckt. So kommen wir nicht weiter.»
Viel interessanter sei die Diskussion, wie die Zukunft der Aussengrenzen gestaltet werden könne. Könnten die Verhandlungen mit der EU bei einer Ablehnung der Vorlage etwas verändern? Laut Cottier «kein einziges Komma», besonders als Nicht-EU-Mitglied könnten wir nichts beeinflussen.
Hoffnung auf einen Kompromiss
Wenn die Schweizer Stimmbevölkerung die Vorlage ablehnt, hat der Bund 90 Tage Zeit, um mit der EU einen Kompromiss zu finden. «Eine reine Utopie in der jetzigen Situation», beschreibt Nyffenegger die Hoffnung auf diesen Kompromiss. Die Schweiz habe bereits Verspätung bei der Inkraftsetzung und profitiere vom guten Willen der EU-Staaten.

Er vergleicht diese Vorlage mit der Abstimmung über die Waffenrichtlinien. Damals hätte die SVP ebenfalls auf den Goodwill der EU gehofft. Dieselbe Argumentation würden heute die links-grünen Parteien ins Feld führen: «Wo habt ihr euren europäischen Kompass verloren?»
«Gar nicht», entgegnet die Co-Präsidentin der Jungen Grünen. Europa stehe ein für Demokratie und Menschenrechte, zu denen Frontex im diametralen Gegensatz stehe. Sie wünsche sich ebenfalls eine bessere Beziehung mit der EU, «doch das müssen nicht die Geflüchteten ausbaden».
Die Schweiz könne sowieso ausgleichende Massnahmen treffen, auch ohne neuen Kompromiss. Cottier widerspricht: «Wenn wir diese Vorlage ablehnen, führt das rechtlich zu einer Kündigung der Teilhabe der Schweiz an Schengen. Wenn Sie in einem Club dabei sind, müssen Sie sich an die Spielregeln halten und können nicht Sonderrechte für sich beanspruchen», vergleicht Cottier die Situation mit dem Schengen-Ausschluss-Automatismus. Das sieht die Seenotretterin anders. Sie schätzt den Rauswurf aus Schengen als unrealistisch ein.
Wie sieht die Idealvorstellung aus?
In Julia Küngs idealpolitischer Welt sollen sich Menschen wie im Schengen-Raum frei bewegen können, ohne Asylgesuche nach Notwendigkeit zu beurteilen. Er orientiere sich lieber an der Realpolitik, sagt Roger Nyffeneger, auch wenn er ihre Vorstellung nicht abwegig finde. Ihm schwebe eher vor, die Resettlement-Kontingente des UNHCR zu erhöhen. Dort habe eben auch die Schweiz die Möglichkeit, etwas zu verändern.

Eigentlich wünscht sich Carola Rackete gar keine Grenzen. Das «absolute Minimum» sei allerdings, dass alle Menschen an den Aussengrenzen Asylgesuche stellen könnten.
Thomas Cottier hätte die Diskussion über Frontex am liebsten gar nicht im Kontext einer Abstimmung. Es komme ihm vor, wie auf einer kantonalen Ebene gegen ein Bundesgesetz vorzugehen. Um Frontex und Schengen nicht zu vermischen, schlägt er vor, die Gespräche mit der EU in der Revision von Frontex zu suchen, nicht in einem Referendum.

Die Entscheidung der Stimmbevölkerung
«Wer Ja stimmt, ist nicht amoralisch, sondern setzt sich für eine Verbesserung der Situation ein», hält Thomas Cottier fest. Carola Rackete sieht einen anderen Weg: «Symbolisch Nein stimmen», fordert sie, um bei Ablehnung der Vorlage einen besseren Kompromiss aushandeln zu können.
Welchen Weg die Schweiz für eine Verbesserung der Menschenrechte einschlagen wird, entscheidet jedoch das Stimmvolk am 15. Mai.
Eine Sternstunde zivilgesellschaftlicher
Diskussion: Alle Bilder zum Abend
UND Generationentandem lanciert vor eidgenössischen Abstimmungen politische Debatten für Menschen aller Generationen. Nationale – und in diesem Fall auch internationale – Persönlichkeiten verschiedenster politischer Couleur treffen aufeinander.

Moderiert und organisiert durch unsere freiwillig Engagierten. «So fördern wir den Dialog der Generationen zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen», erklärt der Initiant und Geschäftsleiter von UND Generationentandem, Elias Rüegsegger.

Partizipativ, digital und innovativ – so lassen sich die Podien beschreiben: Das Publikum bringt sich via Mentimeter in die Diskussion mit ein. Via Livestream können ZuschauerInnen aus der ganzen Welt teilhaben. Die Podien stehen später als Video- und Audiopodcast auf den verschiedenen Plattformen zum Nachhören bereit


beim Vorgespräch – der letzte Gast, Thomas Cottier, steckt noch im Stau fest. – Bild: Victor Keller




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