175 Jahre Bundesverfassung? Seit der ersten Etablierung der modernen schweizerischen Demokratie – eine Halbdemokratie mit weitreichenden direktdemokratischen Elementen – hat sie sich immer wieder verändert und weiterentwickelt. Im Jahr 1971 wurde auf nationaler Ebene das Frauenstimmrecht eingeführt, 1991 wurde das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre herabgesetzt und im Kanton Glarus wurde es im Jahr 2007 sogar auf 16 Jahre gesenkt. Schon zuvor führten die Kantone Neuenburg, Genf und Waadt ein AusländerInnenstimmrecht auf kommunaler Ebene ein. Was ist also der nächste Schritt in der Entwicklung der Demokratie?
Doch nicht alle?
In einer Demokratie besteht der Grundsatz, dass alle Menschen miteinbezogen werden – sie basiert auf dem Prinzip der Teilhabe und der politischen Gleichheit. Da dies aber in den meisten Demokratien nicht der Fall ist, gibt es immer wieder Forderungen nach Veränderungen. Bekannte Beispiele sind die Forderungen nach dem Stimmrechtsalter 16 oder sogar dem Stimmrechtsalter 0, der Möglichkeit, dass Menschen, die unter Beistand stehen, ein Stimmrecht erhalten oder der Ruf nach einem AusländerInnenstimmrecht.
Für einige Demokratie-AktivistInnen gehen aber diese Forderungen zu wenig weit – es leben schliesslich nicht nur Menschen auf diesem Planeten. Marianne Ramsay-Sonneck (48) ist die Geschäftsführerin des 2020 in Berlin gegründeten Vereins «Organismendemokratie». Gemeinsam mit Club Real – einer KünstlerInnengruppe, die seit 2000 partizipative Kunstprojekte entwickelt, um alternative Realitätsentwürfe zu gestalten – entwickelt der Verein Projekte und Praktiken, die Menschen dazu einladen, über mögliche Weiterentwicklungen der Demokratie nachzudenken. Doch warum Organismendemokratie? Marianne Ramsay-Sonneck erklärt, dass die Idee aus einem 2017 durchgeführten Kunstprojekt mit dem Titel «Gartenpolitik» in Oberösterreich entstand. «Wir beobachteten, dass Menschen, wenn sie sich in Bezug zu Ökosystemen setzen, fast automatisch eine diktatorische Haltung gegenüber den anderen Spezies im Garten einnehmen. So begannen wir zu überlegen, wie ein demokratisches System aussehen könnte, in dem auch andere als menschliche Organismen gehört werden.»
«Wir beobachteten, dass Menschen fast automatisch eine diktatorische Haltung gegenüber den anderen Spezies im Garten einnehmen.»
Marianne Ramsay-Sonneck
2018 wurde dann in Wien die erste Organismendemokratie gegründet und die erste Parlamentssitzung, in der alle Organismen eines Ökosystems die gleichen politischen Rechte haben, fand statt. Neben anderen Standorten existiert seit 2019 auch in Berlin eine Organismendemokratie – im Juni 2023 tagt das Parlament bereits zum sechsten Mal.
Wie es funktioniert
Alle Organismendemokratien, die bisher gegründet wurden, haben genau abgesteckte Grenzen, ähneln also eigentlich einem Staatsgebiet. «Innerhalb dieses Staatsgebiets führen wir möglichst genaue Erfassungen aller ansässigen Spezies durch», erklärt Marianne Ramsay-Sonneck und ergänzt mit einem Lachen: «Unser Job beinhaltet gerne einmal das tagelange Zählen von Würmern, Käfern und sogar Bakterien. Wir werden schon fast selbst zu Kriechtieren.»
Die erfassten Spezies – in der Organismendemokratie in Berlin sind es über 400 Spezies – teilen die am Projekt beteiligten Menschen dann in sieben parlamentarische Gruppen auf:
- Weichtiere | Würmer
- Gliederfüsser
- Gehölze | Kletterer
- Kräuter | Gräser | Stauden
- Pilze | Moose | Flechten
- Wirbeltiere
- Bakterien | Einzeller | Viren
Also wirklich alle Lebewesen haben eine Stimme. Aus jeder Gruppe werden zwei Organismen per Los ausgewählt, die ihre Gruppe – oder Fraktion – im Parlament vertreten. «Die Gliederfüsser werden in der aktuellen Legislaturperiode vom Admiral (Schmetterling) und der Totenkopffliege im Parlament vertreten», erklärt Marianne Ramsay-Sonneck und gibt zu: «Ein bisschen sonderbar tönt das Ganze schon, wenn man es so erklären muss; eine Totenkopffliege im Parlament.»
Im Moment ist das «Parlament der Lebewesen», wie es genannt wird, das zentrale Element der Organismendemokratie. Vertreten werden die ausgelosten Organismen im Parlament von Menschen, die den verschiedenen Spezieseine Stimme geben. Die menschlichen VertreterInnen entscheiden im Parlament per Abstimmung wie das Staatsgebiet weiterentwickelt werden soll. Das Parlament entscheidet zum Beispiel darüber, ob Sträucher zurückgeschnitten oder eine neue Spezies eingebürgert werden soll. «Die menschlichen VertreterInnen müssen sich natürlich mit den Organismen befassen, die sie vertreten und immer aus deren Standpunkt heraus abstimmen», betont Marianne Ramsay-Sonneck, «ansonsten werden wir mit diesem System den verschiedenen Spezies natürlich nicht gerecht.» Neben dem Parlament gibt es auch eine Exekutive, die Beschlüsse des Parlaments umsetzt und eine Judikative, die Beschlüsse und Umsetzungen auf ihre Verfassungstauglichkeit prüft. Die Exekutive und Judikative sind mit menschlichen VertreterInnen besetzt. Die Umsetzungsarbeit der Exekutive – meist Veränderungen am Staatsgebiet – wird mit Fördergeldern der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa ermöglicht.
Was uns noch retten kann
Marianne Ramsay-Sonneck scheint sich bewusst zu sein, dass die Idee der Organismendemokratie für viele absurd klingt. Von vielen, insbesondere auch in der «normalen» Politik, würden sie nicht ganz ernst genommen. Aussagen wie «Es ist halt ein Kunstprojekt, das muss ein bisschen radikal sein» hörten sie oft. Für Ramsay-Sonneck ist die Idee hinter der Organismendemokratie aber nicht radikal: «Ich bin auch vier Jahre später noch überzeugt, dass – gerade im Zusammenhang mit der Klimakrise und der zunehmenden Gefährdung der Existenzgrundlage vieler Lebensformen, übrigens auch die der Menschen – uns nur noch ein solches politisches System, das eben allen Lebewesen eine Stimme gibt, retten kann.»
Folgendes, untermalt mit einem Augenzwinkern, gibt uns Marianne Ramsay-Sonneck zum Schluss des Gesprächs auf den Weg: «Wir freuen uns natürlich über jedwede Adaption des Systems und wer weiss, vielleicht findet in Steffisburg im Höchhus-Garten bald die Parlamentssitzung der ersten schweizerischen Organismendemokratie statt.»