Seraina Graf, wie war der Schritt für dich, dich für die Stadtratswahl aufstellen zu lassen und auch gewählt zu werden?
S.G.: Da waren nicht viele Überlegungen dabei. Mir kam zu Ohren, dass noch Leute – vor allem Junge und vor allem Frauen – gesucht würden. Da war für mich klar: «Ja, das mache ich», ohne lange zu überlegen. Der Ausgang dieser Wahlen fiel sehr unerwartet aus, nicht allein für mich. Natürlich ist das Resultat erfreulich, so konnte und kann ich Erfahrungen sammeln, die sich mir sonst nicht erschliessen würden.
Reto Vannini, wie warst du beruflich unterwegs?
R.V.: Ursprünglich war ich Sekundarlehrer, habe längere Zeit unterrichtet und wechselte später in die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich. Dort leitete ich den Rechtsdienst und hatte Stabsaufgaben inne. 2012 ging ich in Pension.
Du bist der Älteste, nicht der Dienstälteste, allerdings hast du dich nach einer Pause erneut für die Stadtratswahl aufstellen lassen. Bereust du dies?
R.V.: Nein, bereut habe ich das nicht. Selbstverständlich war dies nicht so geplant, doch unserer Partei, der BDP, ging es nicht gut. Darauf bat man mich, mich nochmals auf die Liste setzen zu lassen. Als Ältester im Stadtrat betrachte ich meine politische Tätigkeit dereinst als getan.
Das heisst, du denkst ab und zu ans Aufhören?
R.V.: Ja, selbstverständlich. Wenn ich mich in
meinem Umfeld unter den Gleichaltrigen (ich habe Jahrgang 1948) umschaue, was
sie tun, sehne ich mich ab und zu auch nach dem freien Leben in einer Welt ohne
Termindruck.
Ja, da sind andere schon längst pensioniert. Seraina, wie alt bist du?
S.G.: Ich bin 22 Jahre alt. Ich studiere an der Universität Basel und wohne auch in Basel. Im letzten Semester verbrachte ich die Hälfte der Woche dort und die andere in Thun, wo ich einige Verpflichtungen wahrnehmen musste. Ein bisschen ein Hin und Her zwischen meiner WG in Basel und meinem Zuhause in Thun.
Du politisierst in Thun, wohnst hingegen in Basel, warum?
S.G.: Sicher ist es nicht ideal. Wenn es in Thun eine Uni gäbe, welche das Studium Politik und Medienwissenschaften im Angebot hätte, würde ich schon wechseln. In dieser Zusammensetzung gibt es dieses Studium einzig in Basel.
Ich sehe mich nicht als eine, die extra provozieren oder anecken will.
Seraina Graf
Reto, du hattest wegen einer längeren Auslandreise einen Unterbruch in deiner politischen Tätigkeit. Möchtest du nach der Politik erneut auf Reisen gehen?
R.V: Ein solches Versprechen besteht zwischen meiner Frau und mir. Immer unter der Voraussetzung, dass wir gesund sind und eine solche Reise noch machbar ist für uns.
Auslandreisen bescheren uns neue Eindrücke und Einsichten in andere Lebensformen. Kann dies in deinen politischen Alltag einfliessen?
R.V.:Für mich ganz persönlich: Ja. Ich bin ein Mensch, der offen auf die Menschen zugeht. Auch in der Mongolei, sogar, wenn ich deren Sprache nicht kenne. Wenn ich mich informiere, sehe, wie die Menschen dort leben, ihre Probleme kennenlerne, werde ich bei der Rückkehr demütig, und es wird mir bewusst: In der Schweiz zu leben ist ein bisschen wie das Paradies auf Erden. Als Vertreter einer Mittepartei gelingt es mir durch diese Kontakte, die politischen Forderungen, seien sie von links oder rechts, in unseren Alltag einzuordnen. Ich möchte die auf unseren Reisen geknüpften Kontakte nicht missen.
Ich staune immer wieder, wie hervorragend die jungen PolitikerInnen argumentieren.
Reto Vannini
Lebenserfahrung
kann im politischen Alltag hilfreich sein. Wie äussert sich dies im Umgang mit
den Jungen? Nimmt man sie für voll oder beschleicht einen das Gefühl, den
Jungen fehle die Lebens-
erfahrung?
R.V.: Diese Frage ist tatsächlich berechtigt. Vor meiner Stadtratstätigkeit war ich bereits zwölf Jahre in einem Gemeinderat und präsidierte acht Jahre eine Gemeinde im Zürcher Oberland. Diese Erfahrung nimmt man mit und sie verleitet einen zum Denken, die Jungen sollten doch vorerst solche Erfahrungen sammeln, sozusagen «ihre Hörnli abstossen». Vor solchen Überlegungen muss man sich schützen. Ich staune in meiner stadträtlichen Arbeit immer wieder, wie hervorragend die jungen PolitikerInnen argumentieren und ihre Ideen und Vorschläge für ihre Zukunft einzubringen vermögen. Ich habe keine Berührungsängste vor den jüngeren Mitgliedern des Stadtrates.
Seraina, bist du noch am «Hörnli abstossen»?
S.G.: Mit dieser Frage habe ich gerechnet. Ich bewege mich vorsichtig. Sicher spielt hier der Respekt mit, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. So sehe ich mich nicht in der Kategorie derjenigen, welche extra provozieren oder anecken wollen. Ich sehe mich eher als Person, die den Konsens sucht. Mindestens habe ich mir dies für den Anfang so vorgenommen.
Wie war der Start im Stadtrat für dich?
S.G.: Meine erste Sitzung war die zum 100-Jahre-Stadtratsjubiläum. An diesem Anlass durfte ich eine Rede halten. Ich war schon sehr nervös, es hat aber auch «gfägt». Ich erhielt sehr viele positive Rückmeldungen. So fühlte ich mich von Anfang an sehr gut aufgenommen.
Denkst du daran, dich politisch zu betätigen, und weisst du, wohin dich dein Lebensweg führen soll?
S.G.: Darauf eine Antwort zu finden, ist nicht einfach, zumal ich recht jung bin. Auch weiss ich noch nicht, wohin es mich beruflich treiben wird. Ich wurde von JournalistInnen auch schon gefragt, ob ich eine politische Karriere plane oder gar die nächste Grüne Bundesrätin werden wolle. Genau gesagt: Ich weiss nicht, was in einem Jahr sein wird.
Verfügt man über Macht, wenn man in Thun im Stadtrat sitzt, und ist es schwierig, diese aufzugeben, Reto?
R.V.: In einer Legislative von Macht zu sprechen, finde ich vermessen. Von daher werde ich nichts vermissen, wenn ich mein Amt dereinst abgebe.
Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Radio60Plus.